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Partito Radicale Paolo - 31 maggio 1995
Porträt: Reinhard Selten

DAS SPIEL DES LEBENS

(Lufthansa Bordbuch, 3/95)

Mitten auf dem Wanderweg hält Professor Reinhard Selten inne, geniet die Aussicht auf das Siebengebirge, jene steilen, bewaldeten Hügel oberhalb des Rheins gegenüber von Bonn. Und dann zeigt Deutschlands erster Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften mit seinem zusammengeklappten Regenschirm auf Burgruinen, entfernte Bergkuppen und den alten Steinbruch, aus dem ein Teil der Quader für den Kölner Dom kam.

Es sei das erste Mal seit Wochen, sagt er, da er wieder Zeit habe für einen jener ausgedehnten, meditativen Spaziergänge, die er früher jeden Samstag unternahm. Am Vormittag, als er losstiefelte, schien er müde und bla. Jetzt ist Farbe auf seinen Wangen, sein Gang ist federnd, und er geniet die frische Luft, die Bewegung und die Flucht vor dem Telefon, das seit dem 11. Oktober 1994 nicht mehr stillzustehen scheint.

An diesem Tag wurde bekanntgegeben, da der Bonner Universitätsprofessor Reinhard Selten zusammen mit John C. Harsanyi von der University of California, Berkeley, und mit John Forbes Nash Jr. von der Princeton University, New Jersey, den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhält. Die drei Wissenschaftler teilen sich den mit 930 000 Dollar dotierten Preis für ihre bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der Spieltheorie.

Die Nachricht traf Deutschland, wo die Spieltheorie bis dahin nahezu unbekannt war, wie ein Donnerschlag. Und sie katapultierte den bis dahin kaum bekannten 64jährigen Akademiker über Nacht zu gefeierter Pro-minenz. Für den gelehrten, nachdenklichen Mann, der die Einsamkeit so schätzt, war es ein rüdes Erwachen.

"Es gibt fünf oder sechs Leute in der Spieltheorie, die den Preis hätten gewinnen können", erzählt Selten, der zumeist mit sanfter, gemessener Stimme spricht. "So habe ich zwar eine Chance gehabt, aber erwartet habe ich den Preis überhaupt nicht. Ich bin so sehr mit meiner eigenen Forschung beschäftigt, da ich eigentlich nie viel daran gedacht habe. Vielleicht träumen andere davon. Ich nicht. Gefühlsmäig habe ich eine so starke öffentliche Reaktion nicht erwartet."

Sein Arbeitsgebiet, die Spieltheorie, wurde über Nacht zum Gral der Alltagskultur - und Seiten selbst wird seither aufgescheucht von Journalisten, Geschäftsleuten und Prominentenjägern. Sie bieten ihm Vorträge, bitten um Kommentare zu Politik und Wirtschaft oder fragen nach Autogrammfotos. Viele behandeln ihn wie einen modernen Alchimisten, der den Nobelpreis bekommt, weil er irgendein Geheimrezept entdeckt hat, das bei jedem Spiel den Sieg garantiert. Eine Anruferin bat ihn sogar, ihr seine "preisgekrönte Formel" zu faxen.

"Ich mute sie enttäuschen", erzählt Selten lachend. "Vielleicht haben die Leute zu viele Spionagefilme gesehen, und manche glauben, da es tatsächlich so etwas gibt wie Geheimformein, die reich machen oder alle Probleme lösen können. Es ist unglaublich, da jemand sowas glauben kann. Spieltheorie kann in vielen Bereichen angewendet werden. Aber Spieltheorie kann eigentlich nicht viel mehr als einige grundlegende Einsichten in das menschliche Verhalten anbieten."

Mit anderen Worten: Selten kann niemandem beibringen, wie man mit Hilfe der Spieltheorie die Bank von Monte Carlo knackt. Vielmehr ist sie ein interdisziplinärer Ansatz zur Analyse von Interaktionen zwischen Firmen, Nationen oder Lebewesen, und sie beruht auf Studien über das Verhalten von Spielern beim Poker zumBeispiel, oder beim Schach. Um die Spieltheorie vollauf zu begreifen, bedarf es eines profunden mathematischen Wissens und solider Grundkenntnisse in Psychologie, Philosophie und Politologie alles Fächer, mit denen sich Selten seit seiner Jugend eingehend beschäftigt hat.

Ziel der Spieltheorie sei es nicht, in einer Konkurrenz- oder Konfliktsituation einer Seite zum Sieg zu verhelfen und damit die andere Seite verlieren zu lassen, erläutert Seiten. Es geht vielmehr um eine gewisse Balance, in der jede Seite das denkbar vernünftigste Ergebnis erzielt. "Nenn es tatsächlich ein optimales Spielverhalten gäbe, dann würde man nicht mehr spielen. Es würde keinen Sinn machen."

Spieltheorie ist für Selten kein Wegweiser zum Reichtum. Die Einsichten, die man mit ihrer Hilfe gewinnen kann, bieten vielmehr die Möglichkeit, der Menschheit einen weit gröeren Dienst zu erweisen, indem sie die Qualität strategischer Entscheidungsprozesse in Konfliktoder Konfrontationssituationen

verbessert. Situationen, die von Friedensgesprächen im Nahen Osten bis zu Tarif-Auseinandersetzungen oder Vertragsverhandlungen reichen können. Das ist ihm Gral genug, ein vernünftiges, praktisches Ziel, das durch seine Forschung der Verwirklichung ein Stück näher gerückt ist. Seinen bedeutendsten Beitrag auf diesem Feld leistete Reinhard Seiten 1965, als er Theorien zur Unterscheidung zwischen vernünftigen und unvernünftigen Spielergebnissen entwickelte. Ein Ergebnis, folgerte er, das davon abhängt, ob jemand eine unvernünftige Drohung wie "Kauf diese Zeitschrift oder ich erschiee Deinen Hund" ernst nimmt - ein solches Ergebnis kann man getrost vernachlässigen.

Auf die Spieltheorie aufmerksam wurde Selten erstmals in den späten 40er Jahren. Damals las er über ihre Begründung durch die beiden Princeton-Wissenschaftler John von Neumann und Oskar Morgenstern. Ihre Ideen faszinierten Seiten und eine Handvoll weiterer Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler rund um den Globus. Sie stellten die Theorie in die vorderste Front moderner Wissenschaft.

Allerdings stand Spieltheorie noch nicht im Curriculum, als Seiten sich Mitte der 50er Jahre an der Johann-Wolfgang-vonGoethe-Universität in Frankfurt einschrieb. Er begann ein Studium, das er 1961 mit dem Doktortitel in Mathematik abschlo. In den folgenden sieben Jahren habilitierte er sich im Fach Volkswirtschaftslehre.

Schon während seiner Studienjahre hatte sich Seiten ermutigt durch seine Professoren - mit vielen unterschiedlichen Bereichen beschäftigt. Er wählte Wirtschaftswissenschaften als Nebenfach, belegte Seminare in Astronomie und in Geschichte der Naturwissenschaften und hörte Vorlesungen über experimentelle Gestalttheorie und über die Freudsche Psychoanalyse. Er nahm freiwillig an psychologischen Experimenten teil und wurde später mit deren Leitung beauftragt, So wurde er einer der ersten Wissenschaftler, die ökonomische Experimente mit Menschen durchführten.

Sein Interesse am Zeitgeschehen und an der Politik stillte er durch unersättliche Zeitungslektüre.

Nach seiner Habilitation wurde Seiten zunächst zum Professor an die Freie Universität Berlin berufen. Später erhielt er eine Professur an der Universität Bielefeld, und 1984 wechselte er nach Bonn. In den späten 60er Jahren verbrachte er auerdem einJahr als Gastprotessor an der Business School der University of California, wo er eng mit John C. Harsanyi zusammenarbeitete.

Vielleicht war es seine Kindheit in Breslau, die Erlebnisse von Naziherrschaft und Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg, die Seltens Entscheidung beeinfluten, Ökonomie und nicht Mathematik zu lehren. Er wählte die Wirtschaftswissenschaften zu seinem Beruf, weil sie einen direkten Einflu auf das Leben der Menschheit haben und konkret zu einer Verbesserung der Gesellschaft führen können. Aus einem ganz ähnlichen Grund ist er ein leidenschaftlicher Verfechter von Esperanto, jener internationalen Kunstsprache, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, und die er sich auf dem Gymnasium selbst beibrachte.

"Sie ist Teil meiner Identität. Ich fühle mich als Esperantist", sagt er. "Das ist eine gute, unterstützenswerte Sprache, egal wie die Chancen stehen, da sie irgendwann einen Durchbruch zu verbreitetem Gebrauch findet." Neben Esperanto spricht Selten aber auch Englisch und Französisch, die Sprache, in der er zum Zeitvertreib Sciencefiction liest.

Selten geht schneller. Der Wanderweg windet sich jetzt hinauf zur Burg Drachenfels, jener Ruine über dem Rhein, wo der Legende nach der Nibelungenheld Siegfried den Drachen besiegte und anschlieend in Drachenblut badete, um unverletzbar zu werden. Ein durchaus ähnliches Motiv treibt Selten hier herauf, denn seine körperliche Verletzbarkeit war der Grund, warum er vor einigen Jahren mit seinen fünf- bis sechsstündigen Wanderungen begann. Die Ärzte hatten ihm dazu geraten. Er sollte abnehmen, nachdem er an Diabetes erkrankt war. Sehr bald merkte Selten, da er sich beim Wandern ungestört seinen Gedanken hingeben konnte. "Wandern ist immer produktiv für mich. Alleine im Wald kann man seinen Gedanken nachgehen. Ich habe viele wichtige Ideen beim Wandern gehabt."

Die häufigsten Begleiter auf seinen Wanderungen sind ein Buch über Vogelkunde, eines über Bäume und ein Regenschirm. Letzterer geht immer mit - egal ob Regen oder Sonnenschein -, und er dient als Zeigestock, Wanderstab oder als Instrument, um Pflanzen im Dikkicht aufzuspren. Während er genau das tut, beginnt Selten über Philosophie zu sprechen, ein weiteres Fach, das ihn schon als Studenten intensiv beschäftigte. Er erzählt, wie die Schriften von Immanuel Kant ihn beeinfluten, besonders das kurze Traktat"Zum ewigen Frieden".

Darin führt Kant die Idee einer allgemeinen Abrüstung ein, die auf seinem Konzept des Weltbürgers beruht. Und er weist darauf hin, da Demokratien wesentlich weniger geneigt sind, Kriege zu führen, als Diktaturen. Kant zufolge wird es keinen andauernden Frieden geben, solange Nationen vom Prinzip des Machtausgleichs abhängen. Selten unterstützt diese Sichtweise und begründet sie energisch mit dem Hinweis, da in der heutigen Weit Krieg zwischen Demokratien noch unwahrscheinlicher ist, da sie nichts tun, was ihren wirtschaftlichen Interessen zuwider läuft.

Seinen eigenen wirtschaftlichen Interessen nachzugehen wäre für Selten ein leichtes. Der neue Status als Nobelpreisträger macht ihn besonders interessant als Berater oder für Vorträge und Auftritte in Talkshows. Doch solcherlei tut er nur gelegentlich. Seiten zieht es vor, sich auf seine Forschung und Lehre zu konzentrieren. Er weigert sich auch, seinen Lebenslauf so anzupassen, da er den Erwartungen an den Lebenslauf eines Nobelpreisträgers entspricht, indem er etwa behaupten würde, sein langer, verschlungener Weg als Akademiker sei sorgsam auf die

Auszeichnung hin geplant gewesen."Manches ist vom Zufall bestimmt", wendet Selten ein. "Ich hätte auch Philosophie studieren können."

In mancher Hinsicht hat er genau das getan. Seine Art zu denken basiert auf einer der Philosophie verhafteten, intellektuellen Ehrlichkeit und auf einer leidenschaftlichen Neugier. Selten könnte sich nie gänzlich auf Ökonomie beschränken, auch wenn sein Denken durch das, was er aus der Spieltheorie gelernt hat, geprägt ist. Lernen, experimentieren, erwägen und schlufolgern, um dann die Ergebnisse wieder zu überprüfen - das sind die treibenden Kräfte seiner Persönlichkeit. Dabei zeigt er auch eine ungewöhnliche Bereitschaft, seine eigenen Überzeugungen kritisch zu überprüfen, um dann aber auch nach eben diesen Überzeugungen zu handeln.

Als Sohn eines liberalen jüdischen Buchhändlers und einer protestantischen Mutter wuchs Selten christlich auf. Während seiner Jugend war er ausgesprochen religiös, verpate keinen Gottesdienst, las und betete in dem Glauben, wenn er sich nur genug anstrenge, könne er seine Zweifel an der Religion überwinden. Aber nach einigen Jahren verlie er die Kirche doch, weil ihre Lehren ihn nicht überzeugten, und er an organisierte Religion nicht mehr glauben konnte.

Diese Entscheidung war schwierig, aber ehrlich und vor allem mutig in einer Welt, in der Dogmen häufig eingesetzt werden, um Zweifel oder intellektuelle Herausforderungen abzuwehren. Auch für Seltens Einstellung gegenüber seiner Arbeit und gegenüber seinem Leben war diese Entscheidung typisch. Er ist bereit, für seine Überzeugungen einzustehen, auch wenn er damit gegen den Strom schwimmt oder anderen als Sonderling vorkommt.

Vom Drachenfels aus lät er den Blick über den Rhein schweifen und erzählt von einer lukrativen Beratung, die er und eine Reihe anderer prominenter Spieltheoretiker während des Kalten Krieges für die amerikanische Kommission zur Rüstungsbeschränkung durchführten. Sie präsentierten ihre Schlufolgerung vor einer Gruppe hochrangiger Abrüstungsexperten und Militäroffiziere in Washington, und Seiten hielt einen Vortrag über die von ihm entwickelte Rachetheorie. Die Grundbedingung dieser Theorie lautet, da jede Nation, die einen Nuklearangriff verloren hat oder auch nur versehentlich mit Atomwaffen beschossen wurde, versuchen würde, Rache an der Nation auszuüben, die den Schaden verursacht hat. Seine Zuhörer waren zutiefst verstört. "In Amerika kennen wir sowas nicht. Wir kennen nur Vergeltung, aber keine Rache", habe ihm ein General gesagt, erinnert sich Selten, und sein Gesicht füllt sich mit Lachfalten."Können Sie sich eine solche Arroganz vorstellen? Sie ignorierten alles, was wir ihnen vortrugen."

Ganz so wie all diejenigen, die den Professor auf der Suche nach geheimen Erfolgsrezepten anrufen. Leute, die nach dem glitzernden Endprodukt gieren, ohne sich der langsamen, steten Plackerei unterziehen zu wollen. Ihre Welt ist der Wald. Seine Welt sind viele sorgsam gezüchtete Bäume. Das Licht der Öffentlichkeit, dem sich Reinhard Selten ausgesetzt sieht, ist grell. Und doch sehen nur wenige, da die leicht gekrümmte Figur, die da durch die Wälder wandert, ein ganz ungewöhnlicher Mensch ist, den sein Name exakt umschreibt: auergewöhnlich, einzigartig, selten. Ein Mann, der wei: Wenn das Spiel einfachwäre, gäbe es keinen Grund, es zuspielen.

 
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