Wege aus Europas Krise
Die Zeit, 14-10-99
Die Osterweiterung rückt näher: Jetzt empfiehlt die EU-Kommission Beitrittsverhandlungen mit 12 neuen Ländern. Doch kann die EU das verkraften? Eine überstürzte Öffnung birgt Gefahren (Teil 1) Von Helmut Schmidt
Es war falsch, aus der geringen Beteiligung an der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni auf ein Desinteresse der Bürger oder sogar auf ihre Ablehnung der EU zu schlieen. Tatsächlich gab es viele Gründe dafür, dass nur relativ wenige Leute sich an den Wahlen beteiligt haben. Da war der aufgestaute Ärger über lächerliche und überflüssige Vorschriften, die aus Brüssel auf Bürger und Unternehmen herniederregnen; über persönlichen Schlendrian in der EU-Kommission, der diese zum Rücktritt gezwungen hatte; über das Gezerre auf Gipfelkonferenzen - von den Medien genüsslich ausgebreitet. Man hatte den jahrelangen Streit um den Euro, um die Europäische Zentralbank und ihr Präsidentenamt noch in Erinnerung, obendrein las man regelmäig von einem angeblichen Wertverlust des Euro.
Vor allem aber konnte kaum jemand verstehen, worum es bei der Wahl eigentlich ging. Schon die Verträge von Maastricht und Amsterdam mitsamt ihren über hundert (!) Protokollen und
Erklärungen lieen sich nicht durchschauen. Jetzt traten zwar Konservative, Sozialdemokraten und Sozialisten, Liberale und Grüne unisono "für Europa" ein, jedoch konnte man kaum erkennen, wie ernst sie es damit meinten. Noch viel undeutlicher blieb, in welchen wichtigen europäischen Fragen sie sich voneinander unterschieden. Die Wähler sollten offenbar weder zwischen verschiedenen Konzepten für Europas Zukunft noch zwischen den dafür nötigen Führungspersonen entscheiden - weder das eine noch das andere stand jedenfalls zur Wahl. Also blieb den Wählern nur übrig, entweder aus Loyalität jeweils die Partei zu wählen, die sie immer schon gewählt hatten - oder der Wahl fernzubleiben, weil sie doch nichts entschied.
Die europapolitische Haltung (fast) aller Parteien ist immer noch unklar; unklar sind auch die Positionen der im Rat der EU vertretenen Regierungen.
Die Bürger müssen erkennen, wer was warum entscheidet
Wer aber aus patriotischem Interesse den Fortschritt der Europäischen Union will, der muss jedenfalls den heute erkennbaren Gefahren entgegentreten. Nach einem halben Jahrhundert der schrittweisen Integration erscheint der weitere Fortschritt der EU unter drei Aspekten gefährdet:
1. Die bisherige deutsch-französische Kooperation erlahmt und droht damit die gemeinsame Kraft zur Konzeption, zur Initiative und zur Verwirklichung zu schädigen. Es wäre eine Illusion, auf England als Quasi-Ersatzpartner zu hoffen. Denn noch auf Jahrzehnte wird die atlantisch-insulare Grundstimmung der Engländer jede Regierung in London hemmen und die britische Allianz mit den USA für wesentlich wichtiger erscheinen lassen als die EU. Im Ergebnis könnte der Wunschtraum einiger Amerikaner Wirklichkeit werden, die sich eine Kontrolle der USA über Europa wünschen.
2. Die Erweiterung der EU um die 60 Millionen Menschen aus Polen, Tschechien und Ungarn ist gut, weil notwendig. Aber eine weit darüber hinausgehende, allzu schnelle Erweiterung der EU um beispielsweise Rumänien, Bulgarien und am Ende sogar die Türkei würde die Funktionsfähigkeit der gegenwärtigen Institutionen der EU und die ökonomische Leistungsfähigkeit der bisherigen Mitgliedsstaaten überfordern. Solange einige der beitrittswilligen Staaten die inneren Konflikte mit ihren groen nationalen Minderheiten nicht einwandfrei und dauerhaft gelöst haben, ist ihre Integration in die EU nicht ratsam. Vor allem aber würde die Entscheidungsfähigkeit der Gremien der EU schwer beeinträchtigt, sofern jeder Mitgliedsstaat auch zukünftig Anspruch auf ein Kommissionsmitglied (und die groen Staaten sogar zwei!) in Brüssel haben sollte, sofern die Zahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments nochmals erhöht werden und sofern es im Rat der EU beim Einstimmigkeitsprinzip bleiben sollte.
3. Schon lange sind die Gremien und Verfahren der EU, ihre überbordende Bürokratie und der wuchernde Hang, eine Vielzahl auch solcher Dinge minutiös zu regeln, die besser den nationalen Regierungen und Parlamenten der Mitgliedsstaaten überlassen blieben, eine Quelle endloser Reibereien. Schlimmer noch: Sie sind eine Quelle der überflüssigen Gängelung wirtschaftlicher Prozesse und der Verärgerung der öffentlichen Meinung. Mit Recht wollen die Bürger erkennen können, wer was und warum entscheidet und wer verantwortlich ist.
Sowohl Zurückhaltung der Brüsseler Exekutive als auch Durchsichtigkeit aller Entscheidungsprozesse sind dringend geboten. Deshalb ist die jüngste, sehr vorsichtige Stärkung der Rechte des Straburger Parlamentes noch nicht ausreichend; aber auch das Parlament selbst muss seine Kontrollfunktionen wirksamer wahrnehmen - auch medienwirksamer! Sowohl das Europäische Parlament als auch die im Europäischen Rat vereinigten Regierungschefs müssen verhindern, dass die de facto aus den Oberbürokraten der 15 Mitgliedsstaaten bestehenden rund 20 "Räte" (von denen in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam lediglich zwei eine rechtliche Grundlage haben, alle anderen beruhen auf Wichtigtuerei und Gewohnheit!) das Subsidiaritätsprinzip am laufenden Band missachten. Weder der Ladenverkaufspreis von Büchern oder der zulässige Lärm von Rasenmähern noch die Sitzflächen auf landwirtschaftlichen Traktoren, weder die Reinheit des Bieres noch der Krümmungsgrad von Salatgurken bedürfen einer europäischen Gleichschaltung. Auch sol
lte der Europäische Gerichtshof nicht gezwungen werden können, über die Mehrwertsteuer-Befreiung von Straenmusikanten zu entscheiden!
In welchem Umfang die nationalen und Brüsseler Bürokratien gemeinsam Papiere und Paragrafen erzeugen, mag ein einziges Beispiel belegen: Der Bundestagsausschuss, der zur Agenda 2000 und zur Erweiterung der EU dem Plenum des Bundestages am 17. März 1999 seinen Bericht vorgelegt hat, brauchte dazu nicht weniger als 1604 Druckseiten! - in der Masse bestehend aus Anlagen, welche in Brüssel fabriziert worden waren. Welch ein undurchdringlicher Wust!
Die Straffung der Institutionen und Verfahren der EU muss zeitlich Vorrang haben vor der Erweiterung um neue Mitgliedsstaaten. Nach der Erweiterung würden die Hürden für institutionelle Reformen noch höher sein als heute. Allerdings scheinen weder die meisten Regierungschefs noch die Kommission unter Santer diese Ermahnung ernst genommen zu haben.
Vor der Erweiterung der Union muss ihre Vertiefung kommen
Stattdessen hat der inzwischen für fast jedermann undurchschaubare Wirrwarr der Verträge von Rom 1957, Maastricht 1992 und Amsterdam 1997 und der Wildwuchs der Institutionen den Ruf nach einer Verfassung laut werden lassen; auch Auenminister Fischer hat sich daran beteiligt. Der Wunsch ist verständlich, aber er kann nicht zum Ziel führen.
Wenn eine Verfassung nur die wesentlichen Inhalte der verschiedenen geltenden Verträge festschriebe, so würde sie keine der notwendigen Reformen der Institutionen und Verfahren der EU vorsehen; sie würde aber zukünftige Reformen erschweren, weil diese nur noch durch Verfassungsänderungen oder -ergänzungen zustande kommen könnten. Sollte andererseits eine Verfassung von vornherein die heute wünschenswert erscheinenden institutionellen Reformen festlegen, würde es viele Jahre und Jahrzehnte dauern, bis eine Einigung über den Text der Verfassung zustande käme. Dabei hätten jedenfalls eine "Europäische Verfassung" und etwaige Verfassungsänderungen eine stärkere Legitimationsbasis nötig als die geltenden Verträge, die lediglich von den nationalen Parlamenten ratifiziert sind.
In der Auen- und Sicherheitspolitik der Union herrscht ein totaler Kompetenzwirrwarr. In seiner Amsterdamer Fassung proklamiert der EU-Vertrag in Artikel 2 das Ziel einer "Gemeinsamen Auen- und Sicherheitspolitik"; es folgen 17 weitere, zum Teil akrobatisch formulierte Artikel mit sehr kompliziert geregelten Verfahren. So sagt Artikel 18, dass der Vorsitz des Rates in Angelegenheiten der gemeinsamen Auen- und Sicherheitspolitik die EU vertritt; er ist auch für deren Durchführung verantwortlich - zugleich soll aber die Brüsseler Kommission an diesen Aufgaben "in vollem Umfang beteiligt sein". Wie soll dies praktisch funktionieren? Immerhin wechselt der Vorsitz im Rat alle sechs Monate, die Kommission dagegen regelmäig erst nach fünf Jahren! Um gleichwohl Kontinuität zu gewährleisten, ist dem Vorsitz des Rates ein "Hoher Vertreter für die gemeinsame Auen- und Sicherheitspolitik" beigegeben; dies ist die Rolle, die dem gegenwärtigen Nato-Generalsekretär Javier Solana zugedacht ist. Zugleich unterhält anderersei
ts die Brüsseler Kommission diplomatische Vertretungen in allen wichtigen Hauptstädten der Welt, während der Rat oder sein Vorsitz oder der Hohe Vertreter nicht über einen derartigen Apparat verfügt. Nur die künftige Praxis könnte dieses Knäuel von Kompetenzen entwirren.
Das Europaparlament muss legislative Rechte erhalten
Einstweilen beruht die gemeinsame Auen- und Sicherheitspolitik im Wesentlichen auf intergouvernementaler Abstimmung zwischen den nationalen Regierungen - soweit sie überhaupt funktioniert. Im Kosovo-Krieg hat stattdessen die Nato eine einigermaen gemeinsame Politik verfolgt - bei klarer Präponderanz der USA. Sofern die Mitgliedsstaaten der EU (oder die EU selbst) wegen der serbischen Verbrechen im Kosovo hätten ohne Beteiligung der USA militärisch eingreifen wollen, so hätte man dafür zwar theoretisch im EU-Vertrag Verfahrensregelungen gehabt, einschlielich der Inanspruchnahme der WEU (Westeuropäischen Union). Tatsächlich ist aber die WEU, ein Sicherheitspakt seit 1954, praktisch durch die Nato überlagert; die WEU ist bisher ohne Wirksamkeit, sie verfügt auch nicht über militärische Stäbe oder Truppen. Zwar erklärt der heutige EU-Vertrag die WEU zum "integralen Bestandteil" der EU und stellt eine "operative Kapazität" der WEU in Aussicht. Tatsächlich gibt es eine solche Kapazität gar nicht, und nur sieben de
r fünfzehn Mitgliedsstaaten der EU gehören zugleich der WEU an, gemeinsam mit vier weiteren EU-Mitgliedsstaaten gehören sie gleichzeitig der Nato an; die übrigen vier Mitgliedsstaaten der EU halten bisher an ihrer erklärten Neutralität fest.
Es wird Jahre brauchen, bis Europa tatsächlich zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik gelangen kann; mit Recht spricht deshalb Artikel 17 von einer "schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik" (ob eine solche jemals so weit gehen könnte, auch die mit Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat bevorrechtigten Nuklearwaffen-Staaten Frankreich und England einzubinden, erscheint fraglich). Jedenfalls wäre eine Festschreibung des heutigen Zustandes in einer Verfassung unsinnig, denn er funktioniert höchstens mehr schlecht als recht.
Wer heute die Erweiterung der EU um eine Vielzahl neuer Mitglieder betreibt, der liefe das Risiko, dass die schwerfälligen, in ihren Aufgaben gegeneinander unklar abgegrenzten Verfahren zwischen Parlament, Kommission, Rat (de facto heute rund 20 Räte! ) und demnächst über zwei Dutzend nationalen Regierungen in absehbarer Zeit erstarren.
Das Parlament muss einen Teil jener legislativen Rechte erhalten, die heute die Räte und die Kommission ausüben. Die Zahl der Brüsseler Kommissionsmitglieder muss beschränkt werden - zulasten sowohl der groen als auch der kleineren Länder; zum Beispiel schon der Beitritt Polens, Tschechiens, Ungarns plus Sloweniens und Estlands würde sonst die Zahl der Kommissare auf zwei Dutzend erhöhen - und jeder von ihnen würde ein Ressort und eine eigene Bürokratie erhalten, jeder von ihnen würde etwas bewirken wollen.
Der neue Kommissionspräsident Prodi scheint die Praxis seiner Behörde straffer zu ordnen als bisher. Innerhalb des Rates aber muss die qualifizierte Mehrheitsentscheidung zur Regel erklärt werden. Die "Stimmgewichte" der Ratsmitglieder müssen den tatsächlichen Gröenverhältnissen der Staaten besser angepasst werden. All diese Reformen hat man im Amsterdamer Vertrag versäumt; im kommenden Jahre sollen diese left-overs auf einer Regierungskonferenz bewältigt werden. Dies kann jedoch nur dann gelingen, wenn Deutschland und Frankreich (das dann den Vorsitz innehaben wird) mit gemeinsamen Positionen auftreten. Danach wird alles abermals in einen neuen Vertrag einmünden.
Wir brauchen Realismus statt Opportunismus
Alle nötigen institutionellen Reformen ("Vertiefungen") innerhalb der EU würden dann noch schwieriger werden, wenn vorher die Zahl der Mitgliedsländer von 15 auf 20 und sogar noch weiter steigen sollte. Deshalb ist es auenpolitischer Opportunismus, einem Dutzend beitrittswilliger Staaten die Aussicht auf baldige Beitrittsverhandlungen und einigen sogar auf baldigen Beitritt zu eröffnen. Es ist absolut leichtfertig, sogar darüber hinaus die Aufnahme weiterer Nachfolgestaaten von Titos Jugoslawien ins Auge zu fassen. Selbst im besten Falle werden die weiteren Konsequenzen der balkanischen Gewalttaten der letzten Jahre und des gegenseitigen Hasses dazu führen, dass im Südosten Europas de facto ein Flickenteppich von militärisch gesicherten UN-Protektoraten entsteht. Rom konnte nicht an einem einzigen Tag erbaut werden. Das Gleiche gilt für Europa.