Roma setzen sich zur Wehr
Kongress will Diskriminierung im Osten nicht langer
hinnehmen / Appell an Westen
Von Ulrich Glauber (Prag)
Die Meldung der ungarischen Zeitung Nepszava imvergangenen Winter war makaber: In einer Elendssiedlung fur Roma 120 Kilometer ostlich von
Budapest sei ein neunmonatiges Baby von Ratten angefressen worden. Dem auch im Gesicht verletzten Kleinkind mussten zwei Finger amputiert werden. Die
"desolaten hygienischen Zustande" in der Roma-Unterkunft seien schuld gewesen. Jetzt nimmt sich die Internationale Romani Union (IRU) auch dieses
Vorfalls an.
Und dieser Vorfall spricht Bande. Ohne Aussicht auf Besserung leben mitten in Europa hunderttausende Roma unter Zustanden, wie sie sonst nur von den
Armutsgurteln der Riesenmetropolen in der Dritten Welt bekannt sind. Stoff genug fur die IRU, die bis Freitag in Prag tagt. Rund 300 Vertreter der Minderheit aus 40 Landern werden Strategien gegen Rassismus, Ausgrenzung und Verarmung der Roma diskutieren, zu denen weltweit 15 bis 20 Millionen Menschen zahlen durften.
Generalsekretar der 1971 in London gegrundeten Roma-Union und Mitorganisator des alle vier Jahre stattfindenden Treffens ist der 42-jahrige Prager
Rechtsanwalt Emil Scuka. Der Sprecher der tschechischen Roma-Burgerinitiative (ROI) war bis zur Teilung der CSFR einer von elf Roma-Abgeordneten imtschechoslowakischen Parlament. Der tschechischen Volksvertretung gehort kein Angehoriger der Minderheit mehr an, die wegen ihrer schlechten Ausbildung und
aufgrund von Vorurteilen extrem von Arbeitslosigkeit und Achtung betroffen ist. Dass die Roma Verlierer der Wende sind, ist Scuka aber zu oberflachlich. "Die Roma sind in allen gesellschaftlichen Strukturen Au?enseiter. Wir erreichen in keinem Land, in dem wir leben, eine wirtschaftliche und politische
Lebensbasis", versichert er.
Dass die soziale Deklassierung der Roma zu hoher Kriminalitat und zur Prostitution sogar von Kindern fuhrt, sei nicht zu bestreiten. "In jeder Gruppe von Menschen, die keine Bildung, keine Arbeit und keine soziale Anerkennung haben, steigt die Kriminalitatsrate", meint Scuka. Diese Faktoren seien
auch die Ursache, warum die Roma besonders bei Umwalzungen zu Sundenbocken gemacht werden.
Hausverbote fur "Zigeuner" in Kneipen und Laden gehoren zu den harmloseren Diskriminierungen. In der Slowakei beklagen Menschenrechtsgruppen
Zwangssterilisationen von Roma-Frauen, um Kindergeld zu sparen. Nicht selten gibt es Angriffe auf Leib und Leben. Allein in Tschechien wurden im vergangenen
Jahrzehnt 20 Roma zumeist von Skinheads getotet. Der Europarat rugte im Marz 2000 alltagliche Polizeigewalt gegen die Minderheit in Bulgarien und Ungarn.
Die Kommission der Europaischen Union hat Bulgarien, Tschechien und die Slowakei im Februar massiv gedrangt, die "brennenden Probleme der Minderheit" zu
losen, andernfalls werde eine Roma-Massenauswanderung in die Wohlstandslander zu einer ernsten Gefahr fur den angestrebten EU-Beitritt.
Scuka nennt solches Verhalten "heuchlerisch", denn der Westen wisse sehr gut, dass die so genannten Transformationslander kein Geld haben, "die Probleme
der Roma ohne Hilfe zu losen". In Rumanien lebten 2,5 Millionen Roma, in Bulgarien 1,5 Millionen, in Ungarn rund 500 000 und unter funf Millionen Slowaken ist gar fast jeder 16. Burger ein Roma. "In Gro?britannien
leben dagegen gerade mal 20 000 von uns. Trotz unserer Leiden unter dem Nationalsozialismus haben die reichen Lander, die sich gern als Demokratien geben, nicht den Mut gefunden, den Roma eine Aufenthaltsmoglichkeiten
zu bieten".
Der Roma-Kongress in der tschechischen Hauptstadt soll der Minderheit jetzt international eine vernehmbare Stimme schaffen. "Wir wehren uns nicht gegen einen modernen Lebensstil", sagt Scuka, "Bildung und Tradition konnen sich gegenseitig bereichern". Der promovierte Jurist schlie?t einen Widerspruch zwischen Anpassung und Wahrung der Identitat aus. "Wir haben keinen Heimatstaat im Rucken, aber unsere gemeinsame Sprache definiert uns als Nation. Ich denke, Europa wei?, dass es sich auf seine gro?te Minderheit einstellen muss. Wir sind bereit. uns durchzusetzen - als Volk und gleichzeitig als Minderheit."