Liebe Kollegin, lieber Kollege
Die immer wachsende Anzahl an Abgeordneten, Nationalitaeten und Sprachen im Europaeischen Parlament und die sich weiter ausbreitende Rolle zu der dieses berufen ist, zusammen mit den ihm zustehenden sich vervielfaeltigenden Kompetenzen, machen es noetig, dass der organisatorische Apparat dieser Konjunktur angepasst wird. Diese Notwendigkeit kann aber nicht auf Kosten des Gruendungsgedanken des Parlaments selber gehen: das Parlament als ein Ort in das, die Abgeordnete, und zwar alle und jeder gleichberechtigt, zur Bildung eines Gemeinwillens beitragen, ein Ort also, in das, ohne jegliche Einschraenkung seines Mandats, jeder Abgeordnete, nur seinem eigenen Gewissen huldigend, arbeitet, debattiert und abstimmt.
Dieser Gruendungsgedanke muss man vor Augen haben, um die Art und Weise nachvollziehen zu koennen, mit der in der Geschichte der Demokratie die von Parlamenten gehandhabten organisatorischen Mittel eingeteilt und zugeordnet werden. Das gilt erstmal fuer die Praxis der Gruppierung der Abgeordneten nach politischer Affinitaet, was wir heute parlamentarische Gruppen nennen. Wenn diese Gruppen im Namen eine Erleichterung der zu bewaeltigenden Arbeit bestehen, dann ist das zu Gunsten der Arbeit des einzelnen Abgeordneten und nicht der des Parlaments als solchen. Anders gesagt, es ist der Abgeordnete selber, der die Entscheidung faehlt sich einer Gruppe anzuschliessen, um seine Arbeit besser beweltigen zu koennen. Dem Parlament steht es als solchen nicht zu seine Arbeit als Institution dadurch zuerleichtern, dass er auf die Gruppierung seiner Abgeordneten setzt.
Dennoch hat mit der Zeit das Europaeische Parlament Mittels seiner Satzung und den Gewohnheiten und Abfindungen, die sich eingebuergert haben, solche Regelungen hervorgebracht, dank derer die parlamentarischen Gruppen, oder besser gesagt, ihre Praesidentschaftbueros, zum Machtzentrum der parlamentarischen Aktivitaet gemacht worden sind und also zu den Inhaber der demokratischen Repraesentanz und der politischen Initiative. Im Wesentlichen kann man sagen hat, hat das Europaeische Parlament sich von ein in Gruppen organisierten Abgeordnetenversammlung, zu einer die Abgeordneten leitenden Gruppenvesammlung verwandelt.
In besondere sind es die Rechte der einzelnen Abgeordneten - alleinige Inhaber der politischen und elektiven Repraesentanz - die ein langsames und unerbittliches Zusammenschrupfen erlitten haben, zu Gunsten der Vorrechte und Macht der politischen Gruppierungen und ihres Verwaltungapparats. Jene Beeintraechtigung der Rechte des einzelnen Abgeordneten, dessen Symptome man auch auf nationaler Ebene in einigen Parlamenten anfaengt zu sehen kriegen kann, ist, was das Europaeische Parlament angeht, mittlerweile schon so weit getrieben, dass die Bedingungen einer effektiven Beteiligung des einzelnen Abgeorndeten an die Arbeiten der Versammlung aufgehoben sind und dem zu Folge die ihm zukommende, sich aus freihen Wahlen ergebende souveraene Repraesetanz, untergraben ist.
In den nationalen Parlamenten, in denen das Phaenomen der Gruppierungen zu finden ist, werden die individuelle Rechte und Vorrechte der Abgeordneten als solche mit verschiedenen Mittel gesichert und man kann sie auf folgender Weise einteilen:
1. Die Parlamente, in denen selbst ein oder zwei Abgeordnete eine Gruppe bilden koennen, wie in Daenemark, in Finnland, in den Niederlaendern, im belgischen Senat und in Portugal;
2. Die Parlamente, wo es Gruppen gemischter und unabhaengiger Abgeordneten gibt, denen die selben Vorrechte zustehen und gesichert sind wie den anderen politischen Gruppen, so in Italien, in Spanien, in Griechenland und in Irland, oder ihnen aehnliche Vorrecht sichergestellt sind, wie in Frankreich, Mittels dem Verwaltungstreffen der nicht-eingeschriebenen Abgeordneten;
3. Die Parlamente, in denen entsprechen verschiedener Kriterien die nicht-eingeschriebene Abgeordneten sich zusammenschliessen koenne oder von Amts wegen als vereint erkannt werden, wie in Deutschland oder in Frankreich, oder auch rein "technische Gruppen" bilden koennen, wie in Luxenburg.
Auf jeden Fall gibt es in jeder repraesentativen und legislativen Abgeordnetenversammlung der unserer Mitgliedersstaaten einen kleinsten gemeinsammen Nenner der individuelle Vorrechte der Abgeordnete. Dieser besteht, abgesehen von wirtschaftlichen und administrativen Verguenstigungen, die allen Mitglieder des Parlaments im gleichen Masse zugutekommen, im ihm zustehenden Anfragerecht, im Recht also, in der Plaenarsitzung, dem zentralen Moment der parlamentarischen Aktivitaet, das Wort nehmen zu koennen sowie im Recht auf Gesetzesvorschlaege und Abaenderungsantraege. In jedem Parlament hat der Abgeordnete das Recht ein Abaenderungsantrag auf ein Gesetzesvorschlag zu stellen. Selbst die Prozedur des englishen House of Comuns, die auf einer Zuspitzung der Konfrontation zwischen Regierung und Opposition ab ist, stellt sicher, dass alle Abgeordneten ueber die selben Vorrechte verfuegen und, dass, dank der Moeglichkeit des "private members", diese auf eigener Initiative Gesetzesvorschlaege einreichen koennen, die n
icht mit dem Regierungsprogramm uebereintreffen (was der Fall gewesen ist, zum Beispiel, fuer das "abortion act").
Aus dieser schnellen Uebersicht der verschiedenen nationalen Parlamenten ergibt sich, dass 13 der 15 nationalen Parlamenten, den nicht-eingeschriebenen oder unabhaengigen Abgeordneten die selben Rechte oder Vorrecht zugesichert werden wie denjenigen die Gruppen angeschlossen sind.
Im Europaeischen Parlament dagegen ist die Beeinschraenkung der Rechte des alleinstehenden Abgeordneten so weit getrieben, dass diesem die Rechte und Vorrechte streitig gemacht werden, die der Parlamentsaktivitaet selber zu Grunde liegen: er kann in der Plaenarsitzung nicht paritaetisch abstimmen, da ihm die Moeglichkeit versagt ist, Gesetzesvorschlaege oder Abaebderungsvorschlaege vorzustellen. Weiter ist, abgesehen von der Wahl des Praesidenten, was die Zuordnung der verschiedenen institutionellen Posten, durch die Wahl der Vize-Praesidenten, der Kommissionspraesidenten, der Delegationen und sonstigen Ernennungen den Gruppierungen eine oligopolische Machtposition ueberlassen. Dem muss man die rein logistischen wie oekonomischen Privilegien summen, die den Gruppen als solche zugutekommen. Kurz und gut, die Aktivitaet des einzelnen Abgeordneten ist praktisch unmoeglich ausserrhalb eines organisierten Gruppenapparat, dem fuer eine strenge Gruppendisziplin die verschiedensten Vorteile in Tausch gegeben werden.
Wenn das schon fuer jeden einzelnen Abgeordneten gilt, wirkt sich das auf noch viel krassere Weise fuer die Abgeordnete, die alleine stehen, denen jegliche parlamentarische Aktivitaet versagt ist, hauptsaechlich waehrend der Plaenarsitzung und die nicht ueber die selben materiellen und administrativen Ressourcen verfuegen koenne, wie ihre Kollegen.
Dieses undemokratische Abdriften ist nicht unabkoemmlich! Die Bildung der "Gemischten Gruppe", also der Abgeordneten, die keiner politischen Gruppierung beigehoeren, ist eine der vielen Initiativen, die weitergebracht werden muessen, um die Buerokratisierung des Europaeischen Parlaments einzudaemmen und endlich aus ihm eine Versammlung von souveraenen Abgeordneten zu machen. Was die anderen Reformen angeht, von denen viele genauso noetig und dringend erscheinen, werden wir Ihnen auch schreiben, zum Beispiel was das "désengorgement" der Arbeiten der Plaenarsitzung angeht, mittels der Zuordnung von gesetzgebenden Funktion an den Kommissionen, dem klaren Verzicht auf eine Gesetzschreibung fuer all das, was eindeutig nur Regelungen bedarf und dem entsprechend, der Moeglichkeit in der Plaenarsitzung wirklich wieder eine politische Debatte platz zu machen.
In der zwischen Zeit wollen wir Sie bitten unsere Initiative zu Gunsten der Bildung einer "Gemischten Gruppe" zu unterstuetzen und laden Sie ein, den Abaenderungsantrag fuer die Modifikation des Art. 30 unserer Satzung zu unterschreiben.
Besten Dank und herzlichste Gruesse,
Emma Bonino, Marco Pannella, Marco cappato, Gianfranco Dell'Alba, Benedetto Della Vedova, Olivier Dupuis, Maurizio Turco.