Herr Vorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen! Was uns die CDU/CSU-Fraktion unverblümt und offen präsentiert hat, ist ein Vorgeschmack auf das Modell des nationalkonservativen Europas nach dem Motto "zentralisieren, ausgrenzen, aufspalten", und es macht deutlich, was heute unter der sogenannten Normalisierung Deutschlands zu verstehen ist.
Mit diesem Kerneuropa-Vorschlag wird das Konzept der Europäischen Einigung, einer gesamteuropäischen Integration, die auf freiwilliger, friedlicher, demokratischer und vor allem gleichberechtigter Basis zu erfolgen hat, konterkariert in ein Bismarcksches Modell nach dem Motto: Einigung um die Starken herum und zu deren Konditionen. Europa wird so eingeteilt in Staaten erster, zweiter und dritter Klasse. Die Probleme Europas sollen durch Ausgrenzung der vermeintlich Schwächeren gelöst werden. Das unvermeidliche Resultat wird eine neue Aufspaltung sein, anstatt die Mauern zwischen Ost und West endgültig niederzurei en.
Erinnern wir uns daran, was uns Ratspräsident Kohl versprochen hat. Er hat mehr Transparenz, mehr Öffentlichkeit und mehr, echte Demokratisierung versprochen. Und so nutzt Deutschland seine Ratspräsidentschaft: Die gro e Regierungspartei ergreift unter stillschweigender Zustimmung des Kanzlers die erstbeste Gelegenheit, die in die Sackgasse geratenen Logik und Kriterien des Maastrichter Vertrags weiter in ihrem Sinne zu vertiefen, anstatt eine nötige Revision einzuleiten in Richtung soziale, demokratische und ökologische Kriterien. Und sie weckt damit alte Ängste vor einer deutschen Gro machtarroganz bei unseren Nachbarn.
In Zeiten der Renationalisierung der Politik und der Europaskepsis ist dies in hohem Ma e verantwortungslos, weil dadurch Tendenzen zu Isolationismus und zur Abkoppelung von Europa gestärkt werden. Besonders gefährlich ist das Bestreben, durch die Umwandlung der NATO in ein gleichgewichtiges Bündnis zwischen den USA und Kanada in Europa die Aufrüstung der WEU durch eine militaristische Revision des Maastrichter Vertrages voranzutreiben. Die Europäische Union hat objektiv ein Strukturproblem. Der Maastrichter Proze steckt in einer tiefen Krise. Wir sehen uns dadurch in unserer schon sehr früh geäu erten Kritik bestätigt. Aber die Überwindung der Blockierung Europas wird nicht durch das Durchsetzen der Ziele des Maastrichter Vertrages mit der deutsch-französischen Brechstange erreicht, sondern nur durch eine grundsätzliche Änderung der europäischen Verfa theit und die Überwindung der zwischenstaatlichen Integrationsmethode hinter verschlossenen Türen.
Der Europaskepsis kann zum Beispiel begegnet werdem mit einer sinnvollen und gerechtfertigten regionalen Differenzierung, einer konsequenten politischen Dezentralisierung und einer echten Demokratisierung, nicht aber mit einem deutschen Alleingang, der von den "guten Schülern" begleitet wird und die anderen einem immensen Anpassungszwang aussetzt.