Frau Präsidentin, Frau Ratspräsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der europäischen Integration fehlt es an Transparenz, und den Europäischen Institutionen mangelt es an Effizienz. Beide Defizite behindern die Zukunftssicherung der Europäer. Von dieser Realität ausgehend haben einige CDU/CSU-Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments am 1. September in Bonn ein Diskussionspapier der Öffentlichkeit vorgelegt und damit eine europaweite Diskussion ausgelöst. Dies war gewollt, und dies ist notwendig. Der Unmut vieler Europäer über die verspätete und halbherzige Maastricht-Diskussion kann im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996 vermieden werden, wenn rechtzeitig richtige Fragen gestellt und sachdienliche Antworten diskutiert werden. Im Diskussionspapier der CDU/CSU-Abgeordneten werden einige dieser Fragen und Probleme kritisch angesprochen.
Es geht auch um die Gefahren des regressiven und aggressiven Nationalismus in Europa. Es geht vor allem aber auch um die Fragen der Erweiterung, und es geht um die titanische Aufgabe der Schaffung einer gerechten Ordnung des Friedens, der Freiheit und der Sicherheit für ganz Europa.
Natürlich kann man auf 14 Seiten diese und andere wichtige Fragen nicht hinreichend beantworten. Dies war weder möglich noch beabsichtigt. Wir wollten mit unseren Überlegungen zur europäischen Politik Denkanstö e geben, Fragen und Vorschläge zur Diskussion stellen, kritische Antworten provozieren. Die fast unübersehbare Flut von Stellungnahmen, Reden, Artikeln und von kritischen, aber auch zustimmenden Kommentaren beweist den dringenden europäischen Diskussionsbedarf sowie die brennende Aktualität der skizzierten Probleme.
Sieht man einmal von den teilweise wahlkampfbedingten bewu ten Fehlinterpretationen ab - die verehrte Kollegin der Grünen, Frau Roth, hat eben ein geradezu kabarettistisches Beispiel dafür gegeben -, so bedürfen einige Mi verständnisse der Klarstellung. Kernpunkt unserer Überlegungen ist nicht ein wie auch immer definiertes Kerneuropa, schon gar nicht eine Exklusivität von selbsternannten Liga A-Staaten gegenüber Liga B-Staaten. Kernpunkt unserer Überlegungen ist vielmehr die zentrale Frage, wie die lebensnotwendige Entscheidungs-, Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der Europäischen Union in einer kritischen Zeit erreicht werden kann. Diese Frage steht allerdings in Zusammenhang mit der Möglichkeit einer variablen Geometrie - oder wie immer Sie das nennen wollen -, die übrigens mit der Geschichte der europäischen Integration ebenso verbunden ist wie die historische Tatsache, da bisher jede Vielvölkergemeinschaft das Instrument der variablen Geometrie nutzte, um die erforderliche Flexibilität und notwendi
ge Aufgabenerfüllung zu ermöglichen.
Natürlich streben wir an, da alle Mitgliedstaaten sofort und ganz an der Lösung der gemeinsamen Aufgaben vollverantwortlich mitwirken. Es gibt eine absolute Gleichberechtigung, aber man darf nicht Gleichheit und Gleichberechtigung verwechseln. Wenn aber zur Wahl steht, ob man gemeinsam gar nichts tut, weil das der einzige gemeinsame Nenner ist, auf den man sich einigen kann, oder ob einige vorangehen und andere einladen, mitzumachen, um wichtige Aufgaben einer Lösung näherzubringen, dann ist dies die bessere Alternative, und im übrigen auch die bisherige Praxis der europäischen Integration.
(Beifall von rechts)
Es gibt entscheidende Situationen, wo das Entweder/Oder einfach notwendig ist, und das bequeme Sowohl als Auch nicht möglich ist.
Wir glauben, da wir mit diesen Überlegungen in der Tradition der europäischen Diskussion stehen und da diese Überlegungen intensiv diskutiert werden sollten. Wir sind dankbar für die Debatte von heute morgen.
(Beifall von rechts)