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Pannella Marco - 1 luglio 1973
DIE PHANTASIE ALS NOTWENDIGKEIT
von Marco Pannella

ZUSAMMENFASSUNG: Italien 1973: Der Studentenprotest ist ein politisches und kulturelles Massenphänomen geworden. Die Revolution scheint vor den Toren zu stehen, die Mythen der bewaffneten Revolte, der "gerechten Gewalt" setzt sich bei der Mehrheit der Intellektuellen durch. In dieser Zeit gehört es zur Normalität, da auf den Massendemonstrationen gerufen wird: "Den Faschisten umzubringen, ist kein Verbrechen."

Zur gleichen Zeit breitet sich unter den Jugendlichen die Drogenkultur als höchste Form der Regelverletzung in der bürgerlichen Gesellschaft aus. Die Radikale Partei schwimmt gegen den Strom. Sie berauscht sich nicht an der Revolution, sondern setzt sich für die Bürgerrechte der Mehrheit und der Minderheiten ein, sie führt Kampagnen für das Recht auf Ehescheidung, auf Abtreibung und auf Gewissensfreiheit durch. Sie widerspricht den Thesen, es gäbe gute und böse Armeen, rote und faschistische: alle Armeen sind Träger totalitärer, faschistischer Werte; die Befreiungsarmeen sind dazu bestimmt, immer Werkzeug der Unterdrückung der Völker zu werden, die zu befreien sie vorgeben. Marco Pannella schreibt in seinem Vorwort zu dem Buch "Untergrund mit geballter Faust" von Andrea Valcarenghi, dem Führer der "alternativen" Bewegung, da die historischen Grenzen der "revolutionären" Kultur klar auf der Hand liegen, denn sie ist eine Kultur, die nichts anderes als Intoleranz, mörderische Gewalt und Niederlagen bringen ka

nn. Diese prophetische Aussage wurde leider von der Wirklichkeit bestätigt: nach wenigen brachte diese Kultur das Ungeheuer des Terrorismus hervor, das sich in ganz Europa ausbreitete. Es bedurfte 10 bleierner und blutiger Jahre und dramatischer Enttäuschungen, um die Richtigkeit der politischen Kultur der Gewaltlosigkeit, der Toleranz und des Rechts wiederzuentdecken, diese wirklich alternative Kultur anzuerkennen, die Pannella und die Radikale Partei schon mutig vertraten, als sich die gesamte Intellektuellenklasse den Ideen Che Guevaras und Mao-Tse-Tungs verschrieb. Im folgenden drucken wir die wichtigsten Passagen aus Pannellas Vorwort ab.

(Vorwort zu "Underground: a pugno chiuso", von Andrea Valcarenghi, Herausgeber Arcana, Juli 1973)

Mein lieber Andrea, du bittest mich, ein Vorwort zu Deinem Buch "Underground mit geballter Faust" zu schreiben. (...)

Was willst du von mir ? Glaubst Du etwa, mein Name sei ein gutes Zugpferd auf dem Buchmarkt geworden, mit dem Du den einen oder anderen zum Lesen Deines Buches bringen willst ? Nein: ich habe den Beweis; ich wei , da Du wei t, da das nicht so ist. Du liest meine "Schriften" nicht, all die zigtausend Flugblätter, die Presseverlautbarungen, die Broschüren der Radikalen Partei. Und doch sind das die einzigen Schriften, die ich jemals produziert habe, und die ich gewöhnlich in einer halben Stunde runterschreibe, unter dem Zeitdruck des Kampfes, gestern in dem Durcheinander der Via XXIV. Mai und heute in der Via di Torre Argentina 18.

Du bist ein Revolutionär. Ich dagegen mag die Kriegsdienstverweigerer, die gesetzlosen Eheausbrecher, die subproletarischen und amphetaminisierten Langhaarigen, die Tschechoslowaken des Frühlings, die Gewaltlosen, Anarchisten, die echten Gläubigen, Feministinnen, Homosexuelle, Bürgerliche wie ich, Leute mit dem intelligenten "Jedermann" und der traurigen Verzweiflung. Ich liebe die antiken Hoffnungen, sowie die Frau und den Mann, alte politische Ideale, so alt wie das Jahrhundert der Aufklärung, die bürgerliche Revolution, die anarchistischen Lieder und die Ideen der historischen Rechten. Ich bin gegen jede Bombe, jede Armee, jedes Gewehr, gegen den starken Staat, auch nur den vorübergehenden, gegen jedes Opfer, jeden Tod oder Mord, vor allem, wenn darauf das Etikett "revolutionär" klebt. Ich glaube an das Wort, das man hört und sagt, an die Geschichten, die man sich in der Küche, im Bett, auf der Stra e und bei der Arbeit erzählt, also bei Gelegenheiten, bei denen man ehrlich sein und wirklich verstanden w

erden will. Daran glaube ich, mehr als an die Weisheiten oder Schmähreden, an die mehr oder weniger heiligen Texte oder an die Ideologien. Vor allem anderen glaube ich an den Dialog, und nicht nur an den "spirituellen"; an die Zärtlichkeit, an die Umarmung, und an das Wissen, wenn es auf Tatsachen beruht und nicht auf blo en Ausflüchten und Individualismus - und je "privater" die Meinungen sind, die mir zugetragen werden, um so mehr engagiere ich mich dafür, da sie als das, was sie sind, nämlich als öffentliche und politische anerkannt werden. Doch dies ist keine gute Gelegenheit, Deinen Lesern zu erklären, was die Radikale Partei ist. Lassen wir das und gehen wir weiter.

Ich glaube nicht an die Macht, und auch nicht, wenn die Phantasie an die Macht zu kommen droht. Ich glaube nicht ans "Reisen", und sei es auch nur, weil uns die "Alten" immer wieder versichern, sie "formten" die "Jugend" (nach ihren Vorstellungen), so wie das die Armee und die Schule tun. Ich glaube nicht an die Gewehre, denn es gibt so viele andere gro artige Dinge, die wir mit dem "Feind" tun könnten und können, wenn wir ihn auszuschalten gedenken. Und ihr vom "Re Nudo" sagt: "Alle Macht dem Volke !" und "Gras und Gewehre". Das pa t mir nicht. Und Du wei t, da ich nicht Deiner Meinung bin !

Gras kauen oder rauchen interessiert mich nicht, aus dem ganz einfachen Grund, da ich es schon immer gemacht habe. Das beweist die halbe Autobahn von Nikotin und Teer in mir, auf der soviel Selbstzerstörung, Flucht, soviele Beschuldigungen und ausgezehrte und einsame Vergnügen vorbeirasen, soviel wie mein eigener Tod verlangt und auch bekommen hat. Mir erscheint es nur logisch und mehr als vernünftig, da man anderes, weniger giftiges Kraut raucht, wenn es einem schmeckt, und auch, da man das nicht so teuer bezahlen will, auf dem Markt, in der Familie, in der Gesellschaft oder gar im Gefängnis. Von daher ist es für mich sehr einfach, mich ohne Vorbehalte dafür einzusetzen, da die staatlichen Henker und Scharfrichter entwaffnet werden, diese Unterstützer des Chaos', das sie "Ordnung" nennen; die die es so sehr nötig haben zu kommandieren, zu beschützen, zu gehorchen, zu foltern, zu verhaften, freizusprechen oder zu töten, damit sie leben und sich lebendig fühlen können; und die dann auch noch den unmöglich

en Versuch machen, ihre inneren Dämonen (der Ohnmacht, des Unterdrückten, des Frustierten) in die Körper derjenigen zu verpflanzen, von denen sie denken, da sie anders sind als sie selbst, und die das (zum Glück) manchmal auch wirklich sind. Aber aus dem Gras ein positives und klares Symbol gemeinsamer Verbindung und Hoffnung zu machen, das ist mir zu wenig und es ist auch falsch. Und meiner Meinung nach reicht es auch nicht aus, wenn man euer "Gewehr" als Stütze hinzufügt.

Die Gewalt des Unterdrückten erscheint mir "moralisch", die "revolutionäre" Gegengewalt, der Ha des Ausgebeuteten (so "männlich" oder "ungezielt" er nach Sartre auch sein mag), das alles ist mehr als natürlich, zumindest erscheinen sie für mich so. Aber ich beschäftige mich nicht mit Moral; es sei denn, es geht darum, die persönliche Moral des Einzelnen zu verteidigen, oder dessen Recht, sich durchzusetzen, aber nur solange es nicht mit Gewalt gegen andere geschieht. Und was die Natur anbelangt, so glaube ich, da es nicht so sehr die Aufgabe des Menschen und des Menschlichen ist, sie nur zu betrachten oder zu beschreiben, sondern vielmehr sie nach den eigenen Hoffnungen umzuwandeln. Kurz gesagt, alles was lebt und alles was neu ist, ist in irgendeiner Weise natürlich.

Deshalb interessiert es mich nicht so sehr, ob die revolutionäre Gewalt und Euer Gewehr möglicherweise moralisch oder natürlich sind; mich macht die Tatsache zutiefst betroffen, da es selbstmörderische Waffen sind, selbstmörderisch für den, der die vernünftige Hoffnung hat, eine (ein wenig) freiere Gesellschaft aufzubauen, sie zu verändern, indem er sich selbst, die eigenen Verhaltensweisen, die eigene Umgebung revolutioniert, aber Mittel, Methoden und Ideen benutzt, die die Rechte des Gegners und Gültigkeit seiner politischen Vorschläge weder einbeziehen noch zulassen; und das alles aus dem reinen Vergnügen, den Gegner zu besiegen, ihn zu zerstören oder ihn körperlich zu besitzen.

Jede Minderheit, die an der Macht ist, versucht den Kampf der Ausgebeuteten und der Menschen auf ein bevorzugtes Feld abzudrängen, das der Gewalttätigkeit, und die Gewalt ist das einzige Feld, auf dem man langfristige Siege erhoffen kann. Auf Dauer ist jedes Gewehr faschistisch, egal gegen wen es gerichtet ist, wie auch jede Armee und jede andere Institutionalisierung von Gewalt, egal gegen wen sie eingesetzt oder von wem sie ausgeübt wird, im Endeffekt faschistisch ist.

Ist es wirklich so, da der Tod von Genossen, ihr "Opfer" oder auch diese "Übernahme" der Macht die Voraussetzung des revolutionären Kampfes ist ? Und ist es wirklich unabwendbar, da sich nach der Machtübernahme oder im Zuge der Eroberung all das wiederholt, was ich vorher abgelehnt und bekämpft habe, wogegen ich die Revolution gemacht habe ? Sind all diese Gewaltakte, diese Folterungen, die Diskriminierungen, die Verachtung als Rache an dem Feind notwendig ? Wenn das so ist, dann könnt ihr mich als konterrevolutionär bezeichnen, als einen Kleinbürger und Spie er, den man bei der ersten Gelegenheit auf den Müllhaufen werfen darf.

Damit bin ich einfach nicht einverstanden ! Die Ethik der Aufopferung, des heroischen Kampfes, der gewaltsamen Läuterung geht mir nun einmal ziemlich auf die Nerven. Wie von jedem "guten Familienvater" so erwarte ich auch vom Genossen vor allen Dingen das eine: zu leben und glücklich zu sein. Ich persönlich glaube, wenn man einen gewissen Packen Hoffnungen, Ideen und klare Einsichten besitzt, dann dürfte das möglich sein; ich möchte sogar behaupten, da es keine andere Möglichkeit gibt, wahres Glück zu schaffen und zu leben. Aber "Genosse" sein (ebenso wie Vater sein) ist einem weder vom Schicksal vorbestimmt noch vom Arzt verschrieben worden. Wenn sich die Wege trennen, werden wir es bemerken und begreifen. Aber bitte schön, Schlu mit dieser Linken, die nur bei Beerdigungen Grö e entwickelt, oder bei Protestmärschen und Gedenkfeiern; denn das tun auch die Faschisten. Schlu mit dieser "Revolution" a la Clausewitz, mit ihren Strategien und Taktiken, mit ihrer Vor- und Nachhut, Schlu mit den Volkskriegen un

d Kriegen gegen das Volk, der notwendigen und reinigenden Gewalt, den unabwendbaren goldenen Orden. Die Revolution, die sich auf Gewehre und Fäuste stützt und die mit Gewehren und Fäusten regiert, ist nichts anderes als die Fortsetzung, die Wiederauferstehung des alten Systems. Nicht nur euer "König", sondern auch diese in Macht und Gewalt gekleidete "Revolution" ist nackt, lieber Andrea. Und la es mich in dein Buch schreiben, wenn dieser Brief als Vorwort angenommen wird.

Und la auch noch vieles andere mehr zu ...

Ihr seid, Du bist "Antifaschist", Antifaschisten der Richtung "Parri-Sofri (1), an der sich seit zwanzig Jahren die anständigen Leute unseres politischen Lebens mit ihren Klageliedern hochziehen. Wir singen diese Litanei nicht mit.

Ihr habt eine "Unita" (2) aus dem Jahre 1943 ausgegraben und daraus in der letzten Ausgabe des "Re nudo" (3) auf der letzten Seite die Aufforderung abgeleitet, die Faschisten zu töten, wo man sie findet, sie überall aufzustöbern, weil "man die Wurzeln des Übels ausrotten mu ." Und deshalb möchte ich Dich am liebsten einen Schwachkopf nennen. Dann denke ich, alle sind sich darüber einig, nur wir Radikalen nicht, und ich halte den Mund, wenn Du mich nicht zwingst, wie jetzt, ihn aufzumachen und zu schreiben. Ich verstehe irgendwie auch Eure Gründe. Ihr mü t (Euch selbst ?) beweisen, da die PCI heute degeneriert ist; da sie gestern besser war als heute; da sie, als sie Gewehre und revolutionäre Macht hatte, männlicher war, mutiger, härter und reiner. Stattdessen war sie aber (als Partei - wir sprechen hier nicht von den "Kommunisten") womöglich viel schlimmer, sogar schlechter als heute. Auf jeden Fall war sie nicht besser, nur weil sie hier und da den politischen Mord theoretisch untermauerte, und ihn als A

kt des Volkswillens, der Reinigung und Garantie gegen das "Böse" rechtfertigte. Für den, der Trotzki umbrachte, war dieser sicher schlimmer und ekelhafter als ein Faschist, eine noch tiefere Wurzel des Übels. Aber konntet denn Ihr, die ihr zur Schande der "Unita" von heute die von gestern ausgegraben habt, nichts besseres finden, als diese konter-reformistischen, barbarischen, totalitären, die "Wurzeln des Übels" ausrottenden Konzepte ? Gibt es denn wirklich nichts anderes, um sich auf die Traditionen der Klassen, des Volkes und der Arbeiter zu berufen ?

Du, der Du alles begriffen hast, verstehst Dich als Genosse von Notarnicola (4) (und hast recht getan); Du, der Du mindestens ebenso lange wie ich im Subproletariat und mit von der Gesellschaft Ausgesto enen oder an den Rand Geschobenen gelebt hast, warum erkennst Du nicht den Faschismus, der in diesem Antifaschismus liegt ? Wie kannst du noch diese unangemessenen Verleumdungen, Beleidigungen, diese Verachtung, dieses billige, fast religiöse, heuchlerische, schwarz-wei e Pharisäertum im Klassenkampf ertragen ? Versuchen wir nicht, diesen Klassenkampf anders und neu zu leben und zu unterstützen, gerade weil das Anderssein und Andersleben diesen Klassenkampf erzeugt ? Auch Du lebst weiterhin zwischen Gewehr, Antifaschismus und dem Alle-Macht-dem-Volke-mit-geballter-Faust und von dieser alten Neuen-Linken, die Du so minutiös und anschaulich in deinem Buch beschreibst.

Ihr vom "Re nudo" glaubt ebenso wie wir Radikalen, da es keine "Perversen", sondern nur "Andersartige" gibt. In den Familien, in den Schulen, Fabriken oder Büros sind eben sogar die Peiniger in erster Linie nichts als Opfer. Es sei denn, einige Psychanalytiker behaupten, den Vater zu töten sei die Überwindung der Institution, der Familie; aber es reicht nicht aus und ist auf keinen Fall notwendig.

Nehmen wir gemeinsam an, da es in den Gefängnissen, den Kranken- und Irrenhäusern, auf der Stra e und dem Strich, in den Blechbaracken und Elendsvierteln nicht die "schlimmeren" Menschen gibt, sondern nur die "andersartigen". Trotz der Not und des Elends (das so furchtbar ist, gerade weil es tötet, erniedrigt, verändert, und das wir gerade deshalb so sehr bekämpfen), trotz der Arbeit, die entfremdet (und wahnsinnig macht), trotz der jahrhundertealten Klassenausbeutung, die schon erblich geworden ist. Wir träumen - und in unseren Träumen ist all die Kraft und Verantwortlichkeit - von einer Welt ohne Gewalt und Aggressivität; oder zumindest von einer Welt, in der das alles ausstirbt anstatt anzuwachsen oder sich zu wiederholen. Glauben wir gemeinsam daran, da moralisch ist, was jeder darunter versteht. Kämpfen wir gemeinsam gegen die institutionalisierte (und "volkstümelnde") Gerechtigkeit, die "Andersein" als Perversion und Widerspruch als Sünde ansieht.

Wie können wir also gerade in der Politik, im alltäglichen bürgerlichen Leben erneut das Konzept des "Übels", des "Teufels", der "Perversion" ausgraben ? Das was ihr so leicht "Faschist" nennt, hei t bei anderen "Wehrdienstverweigerer", Scheidungsbefürworter", "Abtreibungsbefürworter", "radikaler Verführer", "Verderber".

Der "gelbe Stern" der Ghettos ist ein Zeichen des Schreckens, aber auch für den, der es zum Zwang macht und nicht nur für den, der es trägt. ...

Ich wei nicht, wo in eurer gesamten antifaschistischen Geschichte der grö te Fehler liegt. Besteht er in dem Verdammen und Wiederausgraben dieser gewalttätigen, quasi religiösen, klerikalen, klassenbetonten, terroristischen und barbarischen Kultur, in deren Namen der Gegner getötet oder wie der Teufel ausgetrieben werden mu ? Oder besteht der Fehler in dem unbezahlbaren Dienst, der dem heutigen Staat und seinen Handlangern indirekt und praktisch erwiesen wird, indem die libertäre, demokratische, alternative und sozialistische Kraft des wirklichen Antifaschismus an den gedungenen Mördern und anderen Opfern vergeudet wird ?

Der Faschismus ist viel schlimmer, ernster und bedeutender, und wir haben nicht selten eine intime Beziehung zu ihm. Man kann ihn nicht einfach mit einem Gesetz, wie dem "Scelba-Gesetz" (5) verbieten (Oder kann man damit etwa die Christdemokraten "auflösen" ?); man kann ihn nicht mit einer simplem Anzeige oder einem einzigen Carabiniere unterbinden, um somit besser das Vorgehen gegen die Arbeiter rechtfertigen zu können, und man kann auch nicht einfach im Namen des anti-faschistischen Volkszorns lynchen.

Die Wechselbeziehung zwischen Kapitalismus, Faschismus und der Linken ist komplex, alarmierend, zwingend, gegenwärtig, zweideutig, und das seit mehr als 50 Jahren, einschlie lich des Jahres 1973. ...

Aber genug damit. Wenn alles das, was ich bisher geschrieben habe, uns trennt, Andrea, so zeigt sich nichts Wesentliches davon in Deinem Buch, und auch nicht in Deinem uns beschriebenen Leben, das ich ganz gut kenne ... Du in Mailand und wir woanders haben jeden Tag, über all die langen Jahre hinweg alles und jedes neu erfinden müssen, und es auch geschafft, immer wieder schon vorhandene Mittel abgelehnt, und auch jede Abkürzung oder Bequemlichkeit, um zumindest ein kleines Stückchen weiterzukommen. Die schon vorhandenen Mittel, die sich uns anboten und die offensichtlich die Stärke so vieler anderer ausmachten, erschienen uns nicht angemessen, waren nicht das, was wir suchen und aufbauen wollten.

Die Phantasie war eher eine Notwendigkeit, wir waren sozusagen dazu verdammt, und eigentlich war es keine freie Wahl. Sie schien uns zum Alleinsein zu verdammen, euch in Eurer Lage und auch uns, die wir uns noch mehr an mehreren Fronten verzettelten. Und so haben wir gesprochen, wie es uns möglich war - mit unseren Fü en während der Protestmärsche, mit unseren Hintern bei den sit-ins, mit den Happenings und den "direkten Aktionen" der Wenigen, im Gefängnis und vor Gericht, mit Musik und in den Versammlungen, und wir haben alles riskiert und sind immer gegen den Strom

geschwommen, in dem Bewu tsein, da ein einziger Augenblick der Pause uns um Stunden des anstrengendsten Schwimmens zurückgeworfen hätte. Und die Genossen sahen in uns nur zu häufig die "Andersartigen", während uns die Polizei auf der anderen Seite mit ihrer vollen und permanenten Aufmerksamkeit, mit Provokationen und Prügel überschüttete, und zwar nicht knapp.

Wir waren ausdauernd, wir haben uns geweigert nur zu überleben, wir haben immer wieder von neuem begonnen, und haben Niederlagen in etwas Gutes verwandelt, nicht zuletzt um unseren starrköpfigen und letztendlich naiven und antiken Hoffnungen Gestalt zu geben. Einige Erfolge konnten wir uns schon zuguteschreiben, die heute auch alle anerkennen. Du auch, aber Du warst noch einsamer. Auch in Deinem Buch gelingt es Dir nicht, das zu vergessen oder zu verheimlichen. Ich habe Dich immer als einen Genossen betrachtet, der an derselben Sache arbeitet, der denselben notwendigen Kampf führt und ihn mit uns zusammen organisiert. Du aber hast das nicht so gesehen, und das ist eben der Unterschied. Als Du damals die "verantwortliche Redaktion" des "Re nudo" übernahmst und auch für lange Zeit innehattest (unter Dutzenden anderer), da geschah das nicht aus Gewohnheit und Du hast das nicht aus Gleichgültigkeit getan. Dein Name war nicht einer unter vielen anderen, der soundsovielte Genosse der einen Stunde oder Gelegenheit.

Aber Du warst natürlich ein abwesender Genosse. Ich möchte gerne, da Du auch die andere Seite Deines Buches begreifst, nämlich die Kämpfe, die wir ohne Dich führen mu ten, obwohl wir eigentlich gerechtfertigter- und natürlicherweise hätten auf Dich zählen müssen, weil du ihnen sicherlich zugestimmt hast und ihnen noch immer zustimmst. Gerade die Bürgerrechte haben allen Bewegungen gefehlt, Ausdruck des unbewu ten Rassismus einer ganzen Generation, eine Absage an die "Politik", eher ein bi chen Vogel Strau spielen, ein rotziger Urmarxismus (bei vielen, nicht bei Dir), eine gewisse blinde Gleichgültigkeit gegenüber den konkreten Klassen- und Freiheitskämpfen, das alles hat vor allem in Mailand viel Unheil und Verheerung angerichtet. So bist du einer der wenigen Deiner Genossen, die nach all diesen Jahre dabeigeblieben sind; es ist also noch einmal gut gegangen. ...

Werden wir also noch lange getrennt marschieren ? Berichte auch du ab und zu von unseren Siege, auch wenn Du sie unfreiwillig zu schmälern suchst, wenn Du sie zu meinen individuellen machst, und nicht zu dem was sie eigentlich sind, nämlich Siege jener glücklichen und seltenen Gemeinschaft, die sich Radikale Partei nennt. Heute, mit dem Kampf zur Durchsetzung der 10 Volksentscheide, mit denen der ganze legislative Misthaufen des Regimes abgeschafft werden soll, wird dieser Kampf für viele Monate und für alle offensichtlich und entscheidend.

Wirst Du Dich wieder einmal völlig raushalten ? Für mich ist das weder möglich noch akzeptabel.

Dein Buch ist ein Buch des werten Gavroche (6) und unseres Protestes, das Buch einer politischen Generation, die vielleicht noch nicht ganz von dem Regime der DC (7) (vormals PNF (8)) und ihrer unauffindbaren Opposition geschlagen wurde.

Es ist eine dramatische, solide, flotte und heitere, auch für mich überraschenderweise nicht narzistische Autobiographie eines Kämpfers, der niemandem gehorchen will (der nichts aufgibt und nichts unterschlägt), der erzählt, wie sich alles in Gold oder in die Fata Morgana einer neuen und freien Politik verwandeln könnte: Hasch und Gras, Musik, die Pfeife und auch die Gewehre aus Worten und Pappe, das Militärgefängnis, das Gerichtsgefängnis, der Gerichtssaal, ein Abend vor der Scala (9), gewalttätige Spiele vor dem gro en Corriere (10), der Farbbeutel auf dem zu enthüllenden Denkmal, eine Kaserne, ein Hotel - und ich werde diesem Buch meine Stimme geben, sollte ich demnächst in die Jury von "Viaregio", "Strega" oder "Campiello" (11) berufen werden. ...

Ich würde es auch den verzweifelten Eltern der verlorenen Söhne und Töchter der Protestgeneration als Lektüre empfehlen; und auch den aufgestiegenen wohlhabenden Fortschrittlichen mit ihrer Politik der Einkommen und Karriereprogrammierung, die bestürzt und entrüstet darüber sind, da Ihr nicht sie zu Euren Idolen gemacht habt. Und ich empfehle es auch allen denen, die sich darüber wundern und aufregen, da die wenigen Parteibüros der kostbaren Partei von Pannunzio der Carandini, Benedetti und Piccardi (12) Treffpunkt und Nest der subproletarischen und langhaarigen Banden wurden, der Proteststudenten und Kommunisten, Anarchisten und Trotzkisten, und die dann die Partei der Ehegesetzesbrecher, Kriegsdienstverweigerer, der Feministinnen und Homosexuellen, der Freaks und Abtreiber, der wahren Gläubigen, Vegetarier, Nudisten und des "Abschaums" aus den Gefängnissen wurden. Diese Karriere-Linken würden endlich etwas über sich selbst erfahren, zusätzlich zu dem, das sie über Euch oder uns lernen. Und sie würden da

nn vielleicht weniger zermürbt und genervt aussehen. ...

Nun höre ich auf. Ich mu mich darum kümmern, die erste Million für die Tageszeitung der Radikalen Partei aufzutreiben. Ich glaube, das ist sehr dringend. Wenn ich alles richtig verstanden habe, dann braucht man für eine Tageszeitung (auch wenn sie klein und "alternativ" ist) mindestens eine halbe Milliarde (750.000 DM) im Jahr.

Würdest du mir mit "Re nudo" unter die Arme greifen ?

Anmerkungen:

(1) Ferruccio Parri, militärischer Kommandant aller Partisaneneinheiten in Italien in der Zeit der Besetzung Italiens durch den Nazi-Faschismus.

Adriano Sofri, Führer der italienischen links-radikalen Bewegung "Lotta continua".

(2) "Re nudo" ("Der nackte König"), alternative italienische Zeitschrift während der Studentenrevolte.(3) "L'Unita", Tageszeitung der Kommunistischen Partei Italiens.

(4) Sante Notarnicola, mehrfacher Raubmörder, der im Gefängnis politisiert wurde.

(5) Dieses italienische Gesetz verbietet die Wiedergründung der faschistischen Partei.

(6) Gavroche war ein legendärer junger Pariser Bürger, Anhänger der Französischen Revolution von 1789.

(7) DC, Democrazia Christiana, italienische Partei mit relativer Mehrheit, konservativ und katholisch orientiert, ohne Unterbrechung seit der Niederlage des Faschismus 1946 an der Regierungsmacht, behielt seit mehr als 30 Jahren das alte Strafgesetz und die wichtigsten faschistischen Gesetze bezüglich der Persönlichkeitsrechte bei.

(8) PNF, Partita Nazionale Fascista, die faschistische Partei Mussolinis.

(9) "La Scala", berühmtes Mailänder Opernhaus, 1968 protestierten die rebellierenden Studenten heftig gegen die "Bourgeoisie", die zur Eröffnung der Opernsaison erschien.

(10) "Corriere della Sera", seiner Zeit grö te italienische Tageszeitung mit ausgewogener Richtung, von der 68-er Studentenbewegung heftig angegriffen.

(11) "Viareggio", "Strega" und "Campiello", berühmte italienische Literaturpreise.

(12) Pannunzio, Carandini, Benedetti und Piccardi, fortschrittliche Liberale, die in den 50-er Jahren die Radikale Partei gründeten.

 
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