von Marco PannellaZUSAMMENFASSUNG: In den Ländern mit der Tradition von Recht und Freiheit, von juristischer Zivilisation und politischer Demokratie scheint eine Kluft immer grö er und endgültiger zu werden: die zwischen Wissenschaft und Macht, zwischen Kultur und Regierungen, zwischen den herrschenden Klassen und dem neuen "Dritten Stand", gebildet von der gro en Mehrheit der Männer und Frauen mit ihren Gefühlen und ihren Hoffnungen. Die Politik ist immer weniger gerüstet, eine lebensfähige Zukunft zu gestalten, Leben und Lebensqualität zu garantieren, den Schutz der Umwelt und der bürgerlichen und demokratischen Traditionen und angemessene Reformen an der Schwelle des Jahres 2000 zu verwirklichen.
Es gibt neue Horizonte zu erobern, es gilt vielleicht eine neue Epoche zu schaffen, und es gibt vielleicht eine Partei, die das schaffen kann.
(Erste Fassung der "Einzelausgabe" für den 35· Parteitag der Radikalen Partei - Budapest 22. - 26. April 1989)
Der "Treibhauseffekt", schon vor 20 Jahren vom "Club of Rome" und seinem Präsidenten Aurelio Peccei vorausgesagt, ist wirklich eingetreten. Man spricht von einem "Loch" in der Ozonschicht über der Antarktis, das einen gro en Teil Europas in eine Wüste verwandeln kann. Man spricht davon im Fernsehen, und doch wird die Ursache dieser vorausberechenbaren planetarischen Katastrophe weiterproduziert. Milliarden von Menschen werden bis zum Ende diesen Jahrzehnts durch Hunger, Not und stÄndige Kriege ausgerottet sein. Millionen sterben schon jetzt, und mit ihnen auch die Natur, die Luft, das Wasser. In 50 Jahren haben wir in der Dritten Welt mindestens 50 Gro städte, in der die menschliche Realität - für uns heute kaum, auch nur annähernd vorstellbar - eine explosive Mischung aus Gewalt, Tod, Verzweiflung und Barbarei sein wird. Schon heute bevölkern Millionen Kinder unter 15, ja 10 Jahren, die ohne Wohnung, ohne Familie, ohne Schule oder Arbeit und ohne Hygiene sind, die Stra en und Slums der gro en Städte Lateiam
erikas, Afrikas und Asiens. Riesige Mittel werden in - zumeist militärische - Projekte gesteckt, vergeudet und der Kontrolle der Menschheit entzogen, während neue wissenschaftliche Entdeckungen und Kenntnisse, zum ersten Mal seit 5000 Jahren anwendbar, ungenutzt bleiben. Inzwischen ist die Waffe Nahrung die mörderischste, diejenige, die die gegenwärtige Geschichte und den Ausgang der stattfindenden Auseinandersetzungen am entscheidensten bestimmen wird. Die Wüste schreitet im Süden voran, hunderte Millionen Menschen sterben an Hunger, während sich allein in den Speichern der EG Butter- und Getreideberge anhäufen, während sich die industrialisierte Welt mit den Konsequenzen von falscher und Überernährung plagt. Der Gebrauch der Waffe Nahrung vereint die beiden streitenden Gro mächte, die USA und die Sowjet-Kommunisten. Und weiter: Die AIDS-Psychose - die erste Manifestation einer allgemein verbreiteten Seuche im Zeitalter des Weltdorfes - verbreitet neue Tabus und alte wie neue Ausgrenzungen, während völlig
vergessen wird, da die Verbreitung des Virus im Süden durch die unerträglichen Lebensbedingungen in hohem Ma e gefördert wird.
AIDS verspricht der Gesundheitsindustrie auch einen riesigen lukrativen Markt: 100 Milliarden US-Dollar in den nächsten fünf Jahren. Um diesen lukrativen Markt ist schon der Konkurrenzkampf ausgebrochen und um ihn rivalisieren die multinationalen Pharmaindustrien, gefördert von den nationalen Regierungen, und zum Schaden einer schnellen Abhilfe und auf Kosten der Gesundheit der ganzen Welt.
In den Ländern mit der Tradition von Recht und Freiheit, von juristischer Zivilisation und politischer Demokratie scheint eine Kluft immer grö er und endgültiger zu werden: die zwischen Wissenschaft und Macht, zwischen Kultur und Regierungen, zwischen den herrschenden Klassen und dem neuen "Dritten Stand", gebildet von der gro en Mehrheit der Männer und Frauen mit ihren Gefühlen und ihren Hoffnungen, zwischen dem Gebrauch und der Funktion der Massenmedien und dem Fundament der Demokratie, d.h. dem zum Wählen und Entscheiden notwendigen "Wissen". Die internationalen, multinationalen und nationalen Institutionen geraten immer mehr in eine Existenz- und Funktionskrise. Die Spielregeln werden immer weniger respektiert. Das Strafrecht, die Justizverwaltungen geraten in eine immer tiefergehende Krise. Die UNO und auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag werden immer häufiger verspottet.
Die Existenz eines totalitären Imperiums mit seinem Zentrum in der UdSSR (das sich mit Hilfe willkürlicher und absoluter Machthaber im Laufe von sechs Jahrzehnte gefestigt hat, und das von keinem Gorbatschow in wenigen Wochen grundsätzlich demontiert werden kann), die Verweigerung von Demokratie, Menschen-, Bürger- und politischen Rechte finden heute die gleichen Reaktion, die in den Drei iger Jahren Nazi-Deutschland und das faschistische Italien begünstigte. Es sind die gleichen Antworten, die stillschweigendes Einverständnis signalisieren, die von Blindheit geschlagen, rein defensiv und in ihrer Tendenz selbstmörderisch sind. Milliarden Menschen sind hier und heute der Unterdrückung nach dem antiken Kriterium "cuius regio, eius religio" ausgeliefert.
Während die Wissenschaftler mit wissenschaftlicher Genauigkeit davor warnen, da Europa in den nächsten zwanzig Jahren eine Erschütterung von immensen, ja unerhörten Ausma en erleben könnte, versuchen die Machthaber, "die Politik", das Problem beiseitezuschieben und die Leute davon zu überzeugen, diese Gefahr zu ignorieren, die, je nachdem wie man dazu steht oder wie man sich darauf vorbereitet, das Ausma biblischer Zerstörungen nnehmen oder für die Menschheit erträglich bleiben kann. Hier genügt es schon, an die Dutzenden deutscher und französischer Atomkraftwerke zu denken, um sich das wahre Ausma dieser Gefahr vorzustellen.
Lange Zeit in diesem Jahrhundert und leider auch noch heute, machen viele Wissenschaftler und Angehörige der Kulturszene den Fehler zu glauben, totalitäre, faschistische oder kommunistische, militaristische oder nationalistische Lösungen könnten einen neuen, zum Überleben der Kultur und Zivilisation notwendigen Humanismus besser garantieren als die Demokratie und die bewu te Mobilisierung und Teilnahme selbstbestimmter Völker. Die Illusion, der kürzere Weg sei der der Intoleranz, des Totalitarismus und der Gewalt, scheint sich heute allen Anzeichen nach, besonders in den USA, aber auch in den europäischen Nationen weit zu verbreiten, wenngleich doch die heutige Welt den grö ten Teil ihrer Schaffenskraft und ihres inneren Friedens gerade ihren bürgerlichen und demokratischen Traditionen verdankt. Vier Fünftel der Menschheit lebt heute unter diktatorischen Regimen. Die nationale Zersplitterung der Dritten und Vierten Welt ist die fatale strukturelle Voraussetzung. Wo das Recht auf Leben sich nicht durchsetzen
kann, weil es niemanden gibt, der es garantieren kann, werden Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Recht auf Weiterentwicklung, Gedankenfreiheit zu abstraktem Überbau, ohne Zusammenhang und ohne theoretische und praktische Kraft. Die internationalen Wirren werden auf der anderen Seite durch staatliche und juristische Eingriffe aufgezwungen und genährt, aber auch durch staatliche Verbote, wobei das Staatswesen, das Phänomene zu verbieten vorgibt, den Phänomenen selbst eine unglaubliche und nicht kontrollierbare Macht zuschreibt.
Dafür ist das multinational organisierte Verbrechen, das mehr Macht hat als alle in der UNO organisierten Staaten zusammen, der erschreckende Beweis.
In Europa verkommen verfassungsmä ige und politische Ordnungen, basierend auf dem Repräsentationssystem und dem Pluralismus der Ideologien, zu undemokratischen Systemen der Parteienherrschaft, und dies besonders dort, wo die Mystifizierung des Verhältniswahlsystems bei der Regierungsbildung nicht mehr den Wählerwillen zur Geltung kommen lä t; und so werden sie zu Regimen, die immer weniger gerüstet sind, eine lebensfähige Zukunft zu gestalten, Leben und Lebensqualität zu garantieren, den Schutz der Umwelt und der bürgerlichen und demokratischen Traditionen und angemessene Reformen an der Schwelle des Jahres 2000 zu verwirklichen.
Die gro en Parteien, deren mittelbaren oder unmittelbaren Wurzeln im 19. Jahrhundert oder den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts liegen, haben gegenüber dieser unkontrollierten, absoluten und auch unfähigen Macht ihre historischen und kulturellen Aufgaben erfüllt. Sie haben sich überlebt, und sie müssen notwendigerweise anderen Platz machen, die den aktuellen Notwendigkeiten angemessener begegnen können, weil sie nicht mehr nur nationale, sondern kontinentale und planetarische Ziele und Fundamente haben. Es mu schnell gehandelt werden, aber nicht überstürzt oder übereilt. Es mu wirksam gehandelt und die entsprechenden Werkzeuge dazu geschmiedet werden.
Vielleicht müssen neue Heldengedichte verfa t, zu neue Horizonten aufgebrochen, neue Wege, ein neuer Pioniergeist und neue Wahrhaftigkeit gefunden werden. Eine Rettung ist möglich, aber wir müssen sicher sein, da neue "Himmelsweiden" im Bewu tsein und in den Taten erforscht werden. Von diesem Neuen gibt es schon Ausschnitte, und ihr Schicksal wird und mu sein, da sie von anderen verworfen, angenommen, verwandelt oder verbessert werden. Die Botschaft, die der 32. Parteitag der Radikalen Partei den Tausenden seiner Mitglieder in seiner entscheidenden Phase zurief, die wir den Italienern, den Europäern und der ganzen Welt ins Bewu tsein pflanzen müssen, ist im Grunde genommen einfach: "Wenn es zu wenig Gute gibt, werden die Bösen gewinnen !"