von Roberto CicciomessereZUSAMMENFASSUNG: Die politische Gewaltlosigkeit ist heute die fortschrittlichste und unbestechlichste Form weltlicher Toleranz, auf die sich eine zivilisierte Gesellschaft und ein ziviler Staat gründen. Diese Kultur und politische Methode stärken und legitimieren in der demokratischen Auseinandersetzung die Opposition, die Minderheiten und die Mehrheiten. Im Namen der Göttin Vernunft hat man getötet und massakriert. Im Namen der Revolution und der Nationalstaatsidee hat man Kriege begonnen und die Welt zum Schlachthaus gemacht. Die Gewaltlosigkeit stellt jedoch die Person, den Dialog in den Mittelpunkt des Lebens. Die Gewaltlosigkeit kennt keine Dämonen und keine Feinde, die vernichtet werden müssen, sondern sie kennt nur Menschen und Gegner. Die Gewaltlosigkeit ist agressiv, sie ist nicht friedlich und auch nicht neutral, aber sie kann den Gegner dazu bringen, mit dem besten Teil seiner selbst zu antworten anstatt mit dem schlechtesten. Mit der Kraft der Gewaltlosigkeit hat die Radikale Partei die italienis
che Kultur verändert. Sie hat die Gesetze der weltlichen Toleranz hervorgebracht, sie hat die autoritären Versuchungen bekämpft. Nur mit der Gewaltlosigkeit ist es möglich, eine Bewegung zur Befreiung Europas von Nationalismus und Totalitarismus ins Leben zu rufen.
(Erste Fassung der "Einzelausgabe" für den 35· Parteitag der Radikalen Partei - Budapest 22. - 26. April 1989)
Sollte jemand versuchen, den "Leitgedanken" der Radikalen Partei  zu bestimmen, das hei t das "Chromosom" zu isolieren, das allen ihren politischen Aktionen seinen Stempel aufdrückt oder  sollte sich  jemand darum bemühen, die wesentliche, dem beachtenswerten  radikalen Phänomen zugrundeliegende Idee  in seiner klaren und  wissenschaftlichen Bedeutung zu ergründen, so mu  er sich schon  ein wenig länger mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung die  Wahl der Gewaltlosigkeit für die Partei hat. Er mu  sich fragen,  warum eine Partei, die eine strenge laizistische Ausrichtung hat  und sich im vollen Sinne auf die abendländische Kultur beruft,  das ein wenig naive Abbild Gandhis zu ihrem Parteiemblem macht  und diesem auch das eigene Image im Ausland anvertraut und damit  durchaus das Risiko eingeht, sich der Lächerlichkeit  preiszugeben.
Man würde entdecken, da  es das "Eingehen" einer radikalen Wette  war, die vor fast drei ig Jahren Menschen der unterschiedlichsten  politischen Herkunft, aber mit dem gleichen Glauben in einen  liberalen Sozialismus, dazu gebracht hat, dieses radikale  Unternehmen aufzubauen, und das war im Grunde genommen nichts als  der Versuch, die politische Demokratie zu vervollständigen. Sie  waren davon überzeugt, dieses nur verwirklichen zu können, wenn  es ihnen gelingen würde, das Prinzip der politischen  Gewaltlosigkeit zur tragenden Kultur unserer Zeit zu machen und wenn sie als erste politische Dringlichkeit durchsetzen könnten, da  die  Gewalt gegen den Menschen und seine natürliche Umwelt nicht mehr  als historischer Tribut akzeptiert oder in Kauf genommen wird,  den man gezwungenerma en im Namen der Zivilisation, der  Revolution oder des Fortschritts zahlen mu .
Wollte man diese Wette gewinnen, so galt es, die starken Fäden  der historischen Kontinuität zu durchschneiden und die Prinzipien  der Liberalen wie der Sozialisten abzulehnen, die es immer wieder  geradezu als ihre Pflicht angesehen hatten, gegen die Feinde des  Vaterlandes oder gegen die Klassenfeinde zu den Waffen zu rufen;  und die die Durchsetzung der Gerechtigkeit untrennbar mit der  Hinrichtung der Ungerechtigkeit verbanden.
Sicherlich lebten die besten Exponenten dieser Richtungen  immer wieder voller Leiden in dem Widerspruch zwischen den  anfänglichen Idealen der Revolution - denen der Freiheit, der  Gleichheit, der Brüderlichkeit und der Toleranz - und der harten  Notwendigkeit, dieselben im bewaffneten Kampf durch die  Verherrlichung der gerechten Gewalt zu verleugnen - und häufig  endete das im Terrorismus. Aber letztendlich fanden sie sich  damit ab, diesen Blutzoll zu zahlen und die anfänglichen Ideale  zu verstümmeln; so wurde der ideelle Widerspruch zwischen Zweck  und Mittel als unüberwindlich akzeptiert, nicht zuletzt auch  deshalb, weil die einzige bestehende Alternative nichts als eine  andere Form des Sich-Fügens bedeutet hätte, nämlich die passive  Hinnahme der Ungerechtigkeit, des Totalitarismus, der Ausbeutung.
Eine Ausnahme in der langen Geschichte der skandalösen  Rechtfertigung von Gewalt im Namen der Ideale der Vernunft  stellte die Gewaltlosigkeit Gandhis dar, der der westlichen Welt  aufzeigte, da  es im Gegenteil möglich ist, die politische  Auseinandersetzung, in diesem Falle die Befreiung eines Volkes  von der damals grö ten Kolonialmacht, aufs Härteste zu führen,  ohne sich zwingen zu lassen, auf die Prinzipien der Toleranz und  der Achtung des Lebens zu verzichten, für die man doch eigentlich  kämpfte. Im gewaltlosen Kampf bilden Mittel und Zweck eine  Einheit, das eine pa t sich dem anderen an, das erste ist durch  das zweite vorbestimmt. Soll das nach menschlichen Ma stäben  gesetzte Ziel eine gerechtere Gesellschaft sein, so kann das zu  seiner Erreichung eingesetzte Mittel nicht die Achtung vor dem  Menschen vergessen oder gar seine physische Vernichtung in Kauf  nehmen. Deshalb mu te Gandhi nicht nur gegen die britischen  Unterdrücker kämpfen, sondern vor allem auch gegen die Intoleranz  und die Gew
alt, die ständig das Handeln der Unterdrückten zu  bestimmen drohten; und deshalb war die Voraussetzung für das  Erreichen der nationalen Unabhängigkeit die Überwindung der  religiösen Intoleranz zwischen Hindus und Moslems. Und es war ihm  in der Tat mehr als bewu t, da  der indische Staat sofort nach  der Unabhängigkeit explodieren und zerbrechen würde, wenn nicht  vorher die Privilegien der Kasten und Klassen abgebaut würden;  wenn es ihm nicht gelänge, die zwei religiösen Gruppen zu  versöhnen.
Als ihn die Nachricht erreichte, da  britische Soladaten Opfer  eines Massakers seiner Landsleute geworden waren, ging Gandhi  sogar soweit, eine seit Monaten vorbereitete Massendemonstration  des Ungehorsams - ein "Satyagraha" - abzusagen und stattdessen  einen langen als Bu e gedachten Hungerstreik zu beginnen. Gandhi  lehnte es völlig ab, die Ungerechtigkeit und die Gewalt der  britischen Kolonialherren durch die Ungerechtigkeit und die  Gewalt der indischen politischen Führungsschicht zu ersetzen, die  im Ha  und in der Intoleranz aufgewachsen war.
Gandhi kämpfte nicht nur für die Freiheit und die Unabhängigkeit  des indischen Volkes, sondern auch dafür, da  die gro e  demokratische Tradition Englands, von der er stark beeinflu t war  und was er nie verleugnete, weder in Südafrika noch in Indien  gedemütigt oder  geschändet wurde.
Auch wenn die Gewaltlosigkeit Gandhis in der hinduistischen  Kultur und Religion begründet ist, so ist sie in vieler Beziehung  Teil der europischen und angelsächsischen Kultur - von Leo  Tolstoi über David Thoreau bis Charles Dickens. An erster Stelle  strebt sie an, eine universelle politische Bewegung ins Leben zu  rufen, die sich der Kultur der Aufklärung und deren  Weiterentwicklung verpflichtet fühlt; die Politik, Zivilisation  und Geschichte in Übereinstimmung mit den grundlegenden Idealen  der Französischen und sozialistischen Revolution bringen, aber  auch deren Verfehlungen und die der anderen Revolutionen  überwinden will, die mit ihrer Intoleranz und ihrer  Gewaltanwendung versagt haben.
Eine gefühlsmä ige Einschätzung des "radikalen Gedankens" könnte  die folgende sein: die politische Gewaltlosigkeit ist heute die  am weitesten fortgeschrittene und vollendete Form der  laizistischen Toleranz, auf die sich die Zivilisation einer  Gesellschaft und eines Staates gründen sollte. Dieses Ziel ist  aber nur durchsetzbar, wenn das Prinzip der Gewaltlosigkeit in  der Gesetzgebung  respektiert und von den politischen  Führungsschichten ebenso wie von der historischen Opposition  angenommen wird. In den zwei Jahrhunderten nach der bürgerlichen  Revolution hat es eine Menge erschreckender Widersprüche gegeben,  die die Prinzipien der Toleranz und der Demokratie zutiefst  verletzt haben. Im Namen der Göttin der Vernunft wurde getötet  und massakriert, im Namen der Nationen und der Revolutionen  wurden Kriege geführt und die Welt zum Schlachthaus gemacht. Und  als die Gewalt zur Staatsgewalt oder zur "revolutionären Gewalt"  erklärt wurde, ging man da nicht davon aus, da  Toleranz und  Gewalt miteinander
 leben könnten, ja sogar mü ten ?
Im Gegensatz dazu stellt das Prinzip der Gewaltlosigkeit das  gesellschaftliche Leben des Menschen und den Dialog in den  Mittelpunkt seines Denkens. Unter dem Prinzip der Gewaltlosigkeit  gibt es keine Dämonen und keine Feinde, die es niederzukämpfen  gilt, sondern es gibt nur Menschen; und dementsprechend wird  davon ausgegangen, da  selbst der Schlimmste unter ihnen, wenn er  mit der immer aggressiven Kraft der Gewaltlosigkeit angegriffen  wird, mit dem besseren Teil seiner selbst  antworten wird und  nicht mit dem schlimmsten: "Einen Sieg kann man nur dann als  einen solchen ansehen, wenn alle in demselben Ma e Gewinner sind  und niemand besiegt worden ist," sagt eine berühmte buddhistische  Maxime.
Doch viele Jahre lang schien das gandhianische Prinzip der  Gewaltlosigkeit geradezu sinnbildlich besiegt worden zu sein;  aber nicht so sehr der Mord eines fanatischen Hindus an dem  politischen Führer vor vierzig Jahren oder die Teilung Indiens,  sondern vielmehr der Fakt, da  sich die Kultur der Gewalt und die  totalitären Regime in der Welt durchsetzen konnten, ist der  tragische und deutlichste Ausdruck dieser Niederlage der  Gewaltlosigkeit.
Das hei t allerdings nicht, da  es nach Gandhi keine gro en  Persönlichkeiten und keine wichtigen politischen Ereignisse oder  Massenaktionen mit gewaltlosem Charakter gegeben habe. In  denselben Jahren, in denen sich die Radikale Partei in Italien  politisch durchsetzte, entschied sich Martin Luther King für die  Methode der Gewaltlosigkeit im Kampf für die Bürgerrechte der  schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Massenhafte  Verweigerung des Wehrdienstes kennen wir aus Frankreich während  des Algerienkrieges und aus den USA während des Krieges in  Vietnam. Aber die Radikale Partei ist die einzige organisierte  politische Kraft, die nicht nur auf ideologischer Basis, sondern  auch mit ihrer Theorie der Praxis die eigenen Aktionen auf das  Prinzip der Gewaltlosigkeit gründet.
In den sechziger Jahren schien es, als könnte nichts die  überragende Macht und die Ausdehnung des sowjetischen  Totalitarismus bremsen, als wären erst die europäischen  Demokratien und dann auch die amerikanische gedemütigt, und zwar  besonders durch die Entscheidung der demokratischen  Führungsschichten selber, in den von nationalen und  sozialistischen Revolutionen geschüttelten Ländern Afrikas und in  Vietnam  Fu  zu fassen. In demselben Moment trugen im Westen eine  Gro zahl der Studenten und Arbeiter die rote Mao-Fibel vor sich  her und lie en Che Guevara hochleben. In dieser Zeit war es die  kleine radikale Gruppe, die in Italien gegen den Strom schwamm  und den Versuch unternahm, die politische Gewaltlosigkeit  durchzusetzen.
Dieses ist eine politische Gruppe, die in der Tradition und der  politischen Erfahrung des klassischen radikalen Liberalismus  steht, die es aber - auch im Dialog und in der Auseinandersetzung  mit anderen europäischen und amerikanischen pazifistischen und  anti-militaristischen Bewegungen und der Neuen Linken - für  unabdingbar hält, die der politischen Demokratie eigenen Methoden  und Ziele mit denen der Gewaltlosigkeit zu verbinden. Die  Radikalen gehen in ihrer konkreten Theorie und Praxis von einer  grundlegenden Entdeckung aus, die im Laufe der Jahre vertieft und  klarer bestimmt wurde. Die Gewaltlosigkeit, getragen von der  absoluten Achtung des Menschen -und an erster Stelle ist hier die  Achtung des politischen Gegners zu nennen, der als  Gesprächspartner anzusehen ist - ist der einzig wahre Weg zur  Verwirklichung und Durchsetzung des uneingeschränkten  Rechtstaats, ohne den Demokratie und Freiheit immer eine Illusion  bleiben. Alle anderen "gewalttätigen Wege" zur Erreichung des  Rechtsstaats, der
 Demokratie und des Sozialismus enthalten immer  Elemente, die das eigentliche Ziel verleugnen und ihm  widersprechen.
Die Radikale Partei will aufzeigen, da   sich Gewalt nicht  auszahlt, und da  es mit der Kraft des Dialogs nicht nur möglich  ist, den Gegner zu besiegen, sondern vor allem ihn zu überzeugen.  Die erste Herrausforderung ist gegen den Anspruch des  italienischen Staates gerichtet, die Unauflöslichkeit der Ehe  gesetzlich festzuschreiben. Ein gro er Teil der Linken,  insbesondere der aus der 68er Bewegung entstandene  "revolutionäre" au erparlamentarische Flügel, ignorierte den  Kampf für die Einführung der Ehescheidung mit der Rechtfertigung,  die bevorstehende Revolution würde die Familie, die Ehe und allen  anderen bürgerlichen Mief sowieso gänzlich abschaffen. Doch zum  ersten Mal lernen Hunderttausende - unter ihnen viele ältere  Menschen, die seit Jahren in neuen "illegal" gegründeten Familien  leben - da   es durchaus möglich ist, für die eigenen Rechte  einzutreten und zu demonstrieren, ohne Steine zu werfen und ohne  der Polizei Schlachten zu liefern. Sie erkennen die Wirksamkeit  der gewaltlosen Akti
on, des Hungerstreiks und des Dialogs. So  werden sie in die Lage versetzt, in den Gesetzgebungsproze   einzugreifen und so kommt im klerikalen Italien  eine  Parlamentsmehrheit für die Verabschiedung des  Ehescheidungsgesetzes zustande.
Dann kommt die Kampagne zur Legalisierung der Abtreibung. Diese  Auseinandersetzung ist härter und zum ersten Ma werden in Italien  Massenaktionen des zivilen Ungehorsams erprobt. Abtreibung ist zu  dieser Zeit in Italien streng verboten, und das zwingt Millionen  Frauen dazu, sich demütigenden und gefährlichen  Schwangerschaftsabbrüchen zu unterziehen, das hei t, sich in die Hände  unlauterer Ärzte und Hebammen zu geben und aufgrund der  angewandten mittelalterlichen Methoden das eigene Leben zu  riskieren.
Die Radikale Partei organisiert mit Hilfe der ihr angeschlossenen  Vereinigung CISA in aller Öffentlichkeit private  Abtreibungskliniken, in denen Schwangerschaftsabbrüche unter  Beachtung der medizinischen Regeln vorgenommen werden.  Hundertausende Frauen forderten somit das bestehende Gesetz heraus,  als sie die in der Heimlichkeit verdeckte dramatische  Wirklichkeit an das Licht der Öffentlichkeit brachten; eine  Realität, die alle nur zu gern verdrängen wollten und die die  "progessiven" politischen Kräfte bis dahin aus zynischem und  wahltaktischem Kalkül nicht angerührt hatten. Doch das, was  Gandhi die Gewaltlosigkeit der Starken nannte, der passive  Widerstand, ausgestattet mit einer Methode, die es verhindert,  Komplize des politischen Gegners zu werden - das Satyagraha (Sat  = Wahrheit und Agraha = Standhaftigkeit) - findet seine Anwendung  in einem westlichen Land in der Form, da   bewu t Gesetze  übertreten werden und dafür kollektiv und individuell die  Verantwortung übernommen und die Konsequen
zen getragen werden.  Doch mit diesem Gesetzesbruch wird nicht das Gesetz als solches  abgelehnt; im Gegenteil, es wird die Scheinheiligkeit, dieses  Nicht-Gesetz mit dem Ziel abgelehnt, Recht durchzusetzen. Denn in  Wahrheit wird weder in Italien noch in anderen Ländern das  sowieso nicht anwendbare Abtreibungsverbot konsequent angewandt, das  hei t, der Staat versucht nicht ernsthaft, die Abtreibung  wirklich zu unterbinden. Es wird sich darauf beschränkt, das  Verbot auszusprechen, während die Abtreibungspraxis selbst jedoch  weitgehend toleriert wird und sozusagen "frei" ausübbar ist,  allerdings unter den entwürdigenden und scheu lichen Bedingungen  der Heimlichkeit und Illegalität. Die Radikalen verweigerten also  einem Gesetz den Gehorsam, das zu einem Nicht-Gesetz verkommen  war und damit sollte eine echte staatliche Norm durchgesetzt  werden, nämlich ein Gesetz, das die Würde des Menschen achtet,  indem es die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch der  freien Verantwortung der Frau überlä 
t.
Pier Paolo Pasolini verstand den Leitgedanken der radikalen  Gewaltlosigkeit noch weitergehender als er feststellte, da   in  jedem Akt des zivilen Ungehorsams gleichzeitig der Gehorsam  gegenüber einem höheren Wert enthalten ist, der wiederum die  Voraussetzung eines zukünftigen Gehorsams gegenüber einem  gerechten Gesetz darstellt.
Jeder Einwand, jede Verweigerung aus Gewissensgründen gegenüber  einem ungerechten Gesetz trägt demnach immer gleichzeitig die  Bestätigung des Gewissens in sich.
In dem Moment, in dem Staatsanwaltschaft und Polizei eingreifen  und die gesamte Führung der Radikalen Partei verhaften, war der  Kampf im Grunde genommen schon gewonnen. Es wurde mehr als  deutlich, da    dieses eine Auseinandersetzung zwischen der  unbewaffneten Kraft des verantwortungsbewu ten Gewissens und der  der stumpfsinnigen und unverantwortlichen Macht war, die erst  darauf verzichtet, ihre Gesetze anzuwenden und dann über  diejenigen den Stab bricht, die - gerade als Ausdruck der Achtung  des Rechts - die Modifizierung der staatlichen Normen fordern,  die der Staat selbst nicht einhalten will.
Wenige Monate danach verabschiedet das italienische Parlament das  Gesetz, das den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der Strukturen  des öffentlichen Gesundheitssystems erlaubt.
Doch die "Kraft der Wahrheit" braucht eine Öffentlichkeit, damit  sie sich darstellen und entwickeln kann. Im Grunde genommen ist  die Gewaltlosigkeit nur dann eine wirksame Alternative zur  Gewalt, wenn die Öffentlichkeit die Hinter- und Beweggründe des  Protests kennen; nur wenn die Bürger urteilsfähig sind, können  sie ihre Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken. Wenn die  Voraussetzungen der freien und totalen Information fehlen, wird  die aus der Verzweiflung geborene Entscheidung für die Gewalt,  den Terrorismus und die sinnbildliche Hinrichtung des "Feindes"  eine immer stärkere tragische Versuchung.
Die politische Demokratie ist das einzige System, das es den  verschiedenen und antagonistische Interessen vertretenden Kräften  erlaubt, ohne Blutvergie en und physische Gewaltanwendung an die  Macht zu kommen. Und diese politische Demokratie wird zur  Fiktion, wenn dem Bürger die Möglichkeit nicht gegeben oder gar  genommen ist, in wirksamer Weise Souverän zu sein, das hei t,  Wahlmöglichkeiten zu haben. Und wenn nicht wirklich gewährleistet  ist, da   der Bürger sich über die Beweggründe der Opposition  informieren und darüber urteilen kann, dann ist auch nicht  gewährleistet, da   derselbe Bürger mit seiner Stimme wirklich  zwischen den verschiedenen alternativen Regierungsformen  wählen kann.
Heute geben die alles überflutenden und alles vereinnahmenden  Kommunikationsmedien einer kleinen begrenzten Gruppe eine enorme  Macht; die Macht, die Wahrheit im wahrsten Sinne des Wortes  auszulöschen, sie zumindest zu verzerren oder im Sinne der  eigenen  Interessen zu modifizieren.
Deshalb sind Demokratie und das Recht auf Information für die  Radikale Partei gleichbedeutend, denn das erste kann nicht ohne  die wirksame Ausübung des zweiten bestehen, und umgekehrt ist das  zweite nur in einem Rechtsstaat denkbar. Die herausragenden Waffen  der Gewaltlosigkeit, der Hunger- und Durststreik, werden nicht  eingesetzt, um die Wahrheiten der Radikalen Partei aufzudrängen,  sondern dazu, den politischen Gegner dazu zu bringen, das, was er  zu seinem eigenen Gesetz erklärt, auch selbst einzuhalten.  Pressefreiheit und Vollständigkeit der Information machen eben  gerade die Werte aus, die die demokratischen Länder von den  totalitären Regimen unterscheiden.
Mit dem 70-tägigen Hungerstreik von Marco Pannella wurde  erreicht, da   das italienishe staatliche Fernsehen, das bis zu  diesem Zeitpunkt den Bürgern die Möglichkeit verweigert hatte,  sich über die Argumente und Beweggründe der Radikalen im Kampf  für die Einführung der Ehescheidung zu informieren, der  Italienischen Liga für die Ehescheidung sozusagen als  Wiedergutmachung für die vorher ausgeübte Zensur viele Stunden  Sendezeit mit Information und Diskussion zugestehen mu te.
Aber die Gewaltlosigkeit ist kein starres Schema, das wie eine  zwanghafte Liturgie angewendet wird. Sie ist eine Methode, die  sicherlich strenge Regeln besitzt, die aber in die historische  Realität und die konkrete Subjektivität der Gesprächspartner  eingepa t werden mu .
Deshalb also müssen neue Aktions- und Dialogformen gefunden  werden, wenn die Macht der Vierten Gewalt immer ausgeklügelter  wird. Heute wird den oppositionellen Bewegungen nicht mehr das  Recht auf Information verweigert, doch es wird über sie in einer  verfälschenden Art und Weise informiert, die ihr Bild und ihre  politische Identität in der Öffentlichkeit verzerrt. Das geschah  mit der Radikalen Partei, als sie 1978 in Italien mehrere  Volksentscheide gegen die Sondergesetze für die Polizei  durchsetzen wollte, mit denen der  "habeas corpus" und andere den  Angeklagten schützenden Rechtsgarantien abgeschafft werden  sollten. Der Radikalen Partei wurde der Zugang zu den  öffentlichen Medien zwar nicht völlig verwehrt, aber ihr wurden  nur wenige Minuten in den Sendezeiten mit den niedrigsten  Einschaltquoten zugestanden. Demgegenüber dürfen die anderen  Parteien ohne Ausnahme und Widerspruch in den Nachrichten  betonen, die Radikale Partei begünstige den Terrorismus und  schwäche die Position der Polizei
im Kampf gegen die  Kriminalität. Und diese Lügen konnten sich ungestört als Wahrheit  durchsetzen.
Hätte man in dieser Lage akzeptiert, die wenigen zugestandenen  Minuten zu nutzen und zu sprechen, so wäre das der  Komplizenschaft mit dieser fortdauerndernden Vergewaltigung der  Wahrheit gleichgekommen.
Aus diesem Grunde entschlossen sich die Radikalen mit Schweigen  zu antworten, und sie zeigten sich dem erstaunten Fernsehpublikum  stumm und geknebelt. Die entwaffnende Schlichtheit einer  Botschaft ist oft stärker und aussagekräftiger als ein Aufschrei,  ein Schimpfwort oder ein Fluch. Und doch ist es kein Ausdruck der  Rebellion aus Verzweiflung oder Ohnmacht gegenüber dem  Machtmi brauch, sondern es zeigt die Stärke derjenigen, die sich  nicht der Gewalt unterwerfen. Es ist ein Beispiel und ein Beweis  dafür, da    man nicht unbedingt Steine braucht, um  Gewaltübergriffe zurückzuweisen, sondern da   ein besonnenes  Schweigen ausreichen kann, so wie es bei den Arbeitskämpfen  ausreicht, die Arbeit niederzulegen. Schreien geht in den  unzähligen Verzweiflungsschreien, die unsere Gesellschaft  hervorbringt, unter; doch dieses Schweigen, diese Knebel gruben  sich in das kollektive Bewu tsein ein und stellten dauerhaft die  "Wahrheit des Staates" in Frage.
Und ein noch in viel grö erem Ma e erschreckendes Schweigen  verdeckt den unerträglichen Tribut, den unsere  Überflu gesellschaft im Namen des "ehernen Gesetzes des  Fortschritts und des Profits" zu zahlen bereit ist: 30 Millionen  Menschenleben werden Jahr für Jahr im Süden des Erdballs  vernichtet.
Kapitalistische und kommunistische Gesellschaften, Revolutionäre  und Konservative, alle sind sie sich aus unterschiedlichen  Gründen einig, da  es für das Jahre 2000 unvermeidlich ist,   wegen simpler Nahrungsmittelknappheit Millionen menschlicher  Leben zu ofern.
Das ist die zentrale Herausforderung, der sich die  Gewaltlosigkeit stellen mu . Das ist die zentrale Aufgabe all  derer, die sich, wie die Radikalen, dem moralischen Imperativ  unterwerfen, es sogar zum Zweck der eigenen politischen Existenz  gemacht haben, es unter keinen Umständen zuzulassen, da  auch nur  ein einziges menschliches Leben den sogenannten "höheren"  Interessen geopfert wird.
Um diesen Kampf gegen die Vergewaltigung und die Verweigerung des  wichtigsten Rechtes, des Rechts auf Leben aufzunehmen, hat der  Parteitag der radikalen Partei eine Präambel in das Parteistatut  aufgenommen, das feierlich die unauflösliche Verbindung zwischen  Recht, Gewaltlosigkeit und dem Recht auf Leben betont. "Recht und Gesetz sind auch für die Radikale Partei politisches Recht und Gesetz; die Achtung des Rechts und des Gesetzes ist die einzige Quelle der Legitimität aller Institutionen; es besteht eine Pflicht zum zivilen Ungehorsam, zur Aufkündigung der Mitarbeit, zur Wehrdienstverweigerung, zum gewaltlosem Kampf, als höchste Form der Verteidigung - mit dem Leben -  des Lebens, des Rechts und des Gesetzes. Die Radikale Partei erklärt  den christlichen und humanitären Imperativ des "Du sollst nicht töten" zum historisch absoluten Gesetz, für das keine Ausnahme gilt, auch nicht im Falle der Notwehr."
Das Satyagraha der Radikalen Partei gegen die Vernichtung durch  Hunger in der Welt dauert nun schon fünf Jahre und hat die  "sofortige Rettung von Millionen menschlicher Leben" zum Ziel. In  zwei europäischen Ländern wurden Gesetze verabschiedet, die  Finanzmittel bereitstellen, und zwar nicht zur Aufstockung der  normalen Entwicklungshilfe, sondern dazu, die vom Hungertod  bedrohten Menschen direkt zu retten. Die Diskussion über die  Unterentwicklung wird somit aus dem begrenzten Kreis der darauf  spezialisierten Organisationen genommen  und zum Gegenstand der  Auseinandersetzung der politischen Führungsschichten und der  breiten Öffentlichkeit gemacht.
Doch das Ziel einer breiten Mobilisierung der internationalen  Gemeinschaft zur "Verteidigung des Lebens und des Rechts auf  Leben" konnte bisher nicht errreicht werden. Die Erkenntnis, da   die Verteidigung des Lebens der unzähligen bedrohten Menschen im Süden  der Welt mit der Verteidigung der ursprünglichen Grundlagen des  Rechtsstaates zusammenfallen, hat sich bisher noch nicht im  allgemeinen Bewu tsein festsetzen können.
Somit liegt auf der Hand, was wir schon lange wu ten: Diese  hohen Ziele sind in dem historischen und politischen Rahmen der  Nationalstaaten und deren aktuellen Institutionen nicht  zu verwirklichen. Denn die politische Idee der Gewaltlosigekeit  setzt das Gesetz und das Recht voraus, weil eine Politik für das  Leben, die nicht auch eine Politik für das Recht ist, die nicht  auch Gesetze macht und ändert, sehr leicht Martyrer schafft,  nicht aber Handelnde in der Geschichte.
Heute müssen Recht und Gesetze, wollen sie bestehen und beachtet  werden, transnational und übernational sein, andernfalls bleiben  sie in den Mechanismen der gegenseitigen wirtschaftlichen und  politischen Abhängigkeit verhaftet, oder sie sind ganz einfach keine wirklichen Gesetze.
Die transnationale Partei als Weiterentwicklung des "radikalen  Leitgedankens" ist zum notwendigen Werkzeug der politischen  Gewaltlosigkeit geworden.