(Erste Fassung der "Einzelausgabe" für den 35· Parteitag der Radikalen Partei - Budapest 22. - 26. April 1989)17. Mai 1983. Enzo Tortora, einer der bekanntesten Showmaster des italienischen Fernsehens, wird verhaftet. Im staatlichen Fernsehen und auf der ersten Seite der Tageszeitungen erscheint das Foto, wie Enzo Tortora in Handschellen abgeführt wird. Die Anklage lautet auf Mafia-Verbrechen in Tateinheit mit Drogenhandel, doch liegen keinerlei Beweise vor, und sie stützt sich ausschlie lich auf belastende Aussagen einiger beteiligter und angeblich bekehrter krimineller Kronzeugen, die mit Hilfe der Untersuchungsrichter dem Gefängnis entgehen wollen.
An demselben Abend werden in ganz Italien aufgrund eines einzigen Sammelhaftbefehls 856 Personen festgenommen, unter ihnen fast hundert nur aufgrund der Tatsache, da sie den gleichen Namen tragen. So beginnt eines der grö ten und verfehltesten Ermittlungsverfahren der italienischen Justizgeschichte. Der Publikumsliebling Enzo Tortora sollte der Öffentlichkeit die Seriösität dieses Ermittlungsverfahrens sowie seine Bedeutung im Kampf gegen die Kriminalität beweisen. "Wenn sie sogar den verhaften, dann mu schon was dran sein, dann mu er schon was ausgefressen haben", so nährte sich der Zweifel, der trotz zweier Freisprüche in den Köpfen der Leute hängenblieb, und von diesem entehrenden Verdacht konnte Tortora nie ganz befreit werden.
Ein Jahr nach seiner Festnahme nimmt Tortora, dessen psychischer und physischer Zustand sich beunruhigend verschlechtert, den Vorschlag an, auf der Liste der Radikalen Partei für die Wahlen zum Europäischen Parlament zu kandidieren. 500.000 Italiener wählen Enzo Tortora zum Europaabgeordneten. Er wird das Symbol und zum Urheber einer umfassenden Kampagne für eine gerechte Justiz in einem Land, dessen Justiz eine gro e Zahl von Fehlurteilen produziert und das Gro prozesse initiiert, bei denen erst die Leute verhaftet und dann die Beweise gesucht werden; dessen Justiz sich blind und ohne Prüfung auf Kronzeugen stützt; in dem die Geheimhaltungspflicht in Ermittlungsverfahren systematisch von einem Teil der Staatsanwälte, im Verein mit einer gewissen Presse verletzt wird; in dem die Freiheit und die Integrität des Bürgers häufig mi achtet wird.
Enzo Tortora, zum Abgeordneten gewählt, verzichtet auf die parlamentarische Immunität, um die Weiterführung des Prozesses gegen ihn zu ermöglichen. Er wird in erster Instanz zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, worauf er sein Europamandat zurückgibt, sich den Justizbehörden stellt und somit in einer beispiellosen Geste einen offensichtlichen Justizirrtum akzeptiert. Unter Hausarrest gestellt, setzt er sich weiterhin unermüdlich für die Rechte anderer, unbekannter und wehrloser Opfer dieser ungerechten Justizpraxis ein. Von Beginn seines Falles an forderte die Radikale Partei ein Referendum, das darüber entscheiden sollte, ob Untersuchungsrichter, die sich schwerwiegender Fahrlässigkeit in ihrer Amtsausübung schuldig gemacht haben, zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.
Im September 1986, drei Jahre nach seiner Verhaftung, spricht das Oberlandesgericht in Neapel Enzo Tortora wegen erwiesener Unschuld frei. Im Juni 1987 bestätigt der italienische Bundesgerichtshof die volle Unschuld Enzo Tortoras in letzter Instanz. Tortora verklagt die Untersuchungsrichter, die das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet und ihn verurteilt haben, auf 100 Miliarden Lire Schadensersatz (ca. 14 Millionen DM), zahlbar an die Initiative für die Gerechtigkeit.
Am 7. und 8. November 1987 werden die italienischen Bürger, nach einer dramatischen und leidenschaftlichen Kampagne, zum Referendum an die Urnen gerufen; 80 % der Wähler stimmen mit ihrem "Ja" der direkten zivilrechtlichen Verantwortlichkeit der Untersuchungsrichter zu. Ein aufsehenerregendes Ergebnis und eine gro artige Errungenschaft; der im Referendum zum Ausdruck gekommene Volkswillen wird jedoch im April 1988 von den Parteien durch ein entsprechendes, vom Parlament verabschiedetes Gesetz total verzerrt. In der Zwischenzeit geht die Nachricht durch die Presse, da Enzo Tortora an Krebs erkrankt ist. Er selber informiert die Presse darüber: von der Krankheit schwer gezeichnet, aber ohne Resignation appelliert er an die Öffentlichkeit, an die Parteipolitiker und an die Insassen der Gefängnisse, zusammen mit der Radikalen Partei gegen diesen Verrat an dem Volkswillen zu protestieren.
Tortora stirbt am 18. Mai 1988 und hinterlä t der Radikalen Partei das Erbe, eine europäische Stiftung für die Gerechtigkeit, die seinen Namen trägt, zu gründen. Die Stiftung soll unter anderem die Aufgabe haben, "jedes Jahr in aller Welt die Person auszuzeichnen, die sich am meisten um die Einhaltung der Gesetze und um die Rechtspflege, also um die sogenannte 'Gerechtigkeit' verdient gemacht hat; oder das Opfer der Ungerechtigkeit würdigen, das diese nicht stillschweigend hingenommen hat, sondern die Werte der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Freiheit gewürdigt und verteidigt hat, ohne sich mit dem Einfachen und persönlichem Opportunen abzufinden und zufriedenzugeben. "