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Russland/Tschetschenien: Artikel von Andre Glucksmann

Die Zeit

2. August 2000

STALIN DACHTE NICHT ANDERS

Der Krieg in Tschetschenien vernichtet die moralischen Fundamente der russischen Gesellschaft

Von Andre Glucksmann

Drei Uhr morgens. Seit Mitternacht befinde ich mich illegal auf russischem Gebiet. Die Grenzsoldaten hielten hilfsbereit den Stacheldraht zur Seite, sie werden fur das Risiko, das sie eingehen, von einem Menschenschleuser entschadigt, der ebenfalls Geld dafur bekommt. "Dawaj! Dawaj! Schnell! Schnell!", drangt er. Der russische Militarposten ist keine 15 Meter von uns entfernt. Wir rennen uber Felder, stolpern in den Schlamm, dann lasst uns der Schleuser unter einer Weide stehen.

Ich entschloss mich spontan zu dieser Reise. Der russische Botschafter in Paris verweigert mir das Visum und knupft damit an Zeiten an, von denen wir gehofft hatten, sie waren Geschichte. Also dringe ich ohne Erlaubnis in seine "Foderation" ein. Ein Philosophiestudium ist nicht die beste Vorbereitung fur die Suche nach der Wahrheit. Der weitgehende Ausschluss der Offentlichkeit begunstigt die Greueltaten des Tschetschenienkriegs. Verbrechen finden im Dunkeln statt, Stra?enlampen schutzen Passanten. Betrachten Sie mich also als eine Art Taschenlampe.

Das Ziel einer Anti-Terror-Aktion sind Terroristen. Tony Blair macht nicht Belfast dem Erdboden gleich, um der IRA Herr zu werden, und Madrid walzt die ETA nicht mit schwerer Artillerie nieder. Aber Grosny, das einmal 400 000 Einwohner hatte, liegt in Schutt und Asche. Die erste zerstorte Hauptstadt seit Warschau 1944. Der "Schwerpunkt" eines Konfliktes, schrieb Clausewitz, konne in der Person des Anfuhrers liegen, in der Armee und ihrem Fuhrungsstab, dem Regierungssitz - oder im "Volk" selbst, dem Reservoir der Rebellen. Die Tschetschenen fallen in die Kategorie des Krieges gegen die Zivilbevolkerung. Wer etwas uber den Ausgang des Konflikts wissen will, muss jene fragen, die ihn erleiden mussen. Widerstand oder Kapitulation? Die Antwort gebuhrt den bombardierten Dorfbewohnern, den Muttern, die ihre gefolterten Sohne nicht mehr finden, den Umherirrenden, die auf der Suche nach Mehl und Medikamenten teure und erniedrigende "Kontrollen" uber sich ergehen lassen mussen. Die Entscheidung uber den Ausgang des Ka

mpfes liegt bei den Kleinsten der Kleinen, den Vergessenen jener euphorischen strategischen Prognosen, die Moskau immer wieder verbreitet.

Die Spezialisten im Kreml haben aus der schmachvollen Niederlage von 1996 gelernt. Sie zerstoren aus sicherer Entfernung, vermeiden Nahkampfe mit einem Gegner, der moralisch viel starker motiviert und physisch besser in Form ist. Es hat keinen Sinn, den offenen Rassismus, die Niedertracht und Grausamkeit der russischen Generale zu beanstanden; selbst wenn sie Engel waren, hatten sie keine andere Chance: im gro?en Stil zerstoren, die Stellungen zementieren und das feindliche Gebiet restlos plundern. Doch so rational diese Vorgehensweise auch sein mag, sie stolpert uber eine gro?e Unbekannte: Wie reagiert eine Bevolkerung, die all dies erleiden muss? Uber diesen Punkt tappen die brillanten Strategen des FSB-KGB im Dunkeln. Wenn sie diese Frage auch nur ansatzweise beantworten wollten, mussten sie ihre Buros und Polizeistellen verlassen und mit moglichst vielen reden. Ich habe das getan, sie nicht. Sie konnen das auch nicht. Ein Henker kann nicht auf die Aufrichtigkeit seiner Opfer setzen. "Lieber einen Tschets

chenen zum Feind als zum Freund", sagt ein russischer Soldat.

Schade, Herr Supergeneral Trotschew, dass Sie nicht auf meinen heimlichen Erkundungsgangen durch Ihre "befreiten" Gebiete dabei waren. Wenn Sie auf der zerfetzten Matratze einer Frau gesessen hatten, die sich noch bei Ihnen dafur entschuldigt, dass ihr Haus zerstort ist und dafur, dass sie Sie nur in diesem Schuppen empfangen und verstecken kann, vielleicht wurden Sie dann das Ausma? Ihrer Unglaubwurdigkeit begreifen. Als der Ehemann, ein Traktorfahrer, starb, war das alteste ihrer funf Kinder gerade mal zehn und das jungste noch nicht geboren; jetzt ist das alteste zwanzig und hat in Schali ein Bein verloren, sein Zustand verschlimmert sich wegen fehlender medizinischer Versorgung.

Schade, dass German Gref mir nicht auf einen Basar in Dagestan gefolgt ist. Hier hatte Putins oberster Wirtschaftsexperte, gewohnt, leichtglaubige westliche Bankiers zu empfangen, zahere und ironischere Gegenuber gehabt. Geschaft ist Geschaft auf den kaukasischen Markten. Frauen, die zu Fu? oder mit dem Reisebus uber die Grenze kommen, um hier etwas zu besorgen und druben wieder zu verkaufen, je nachdem. Junge Manner in Adidas und Nike, echt oder gefalscht. Die von den Russen angeheuerten kontraktniki verwandeln hier die Ausbeute ihrer Plunderungen in Goldkettchen, ihre obligatorischen Souvenirs. Untergetauchte Illegale, die die Hand ausstrecken. 100 Dollar fur ein Baby, die Mutter muss die Familie ernahren. Eine andere legt ihr Baby auf die Motorhaube eines wohlhabenden Landsmannes. Vornehm wurde er hier aussehen, der markige Herr Gref mit seinen Prognosen vom Wirtschaftsaufschwung. "Moskau?" spottet Rustam, 26, wahrend er Tee in einer Thermoskanne made in Taiwan zubereitet: "Moskau ist nicht mal mehr in de

r Lage, Papiertaschentucher herzustellen, das kommt doch alles aus Korea oder China, die Emirate verschicken es im gro?en Stil. Die Russen haben genau wie wir den Samowar durch Thermoskannen ersetzt, naturlich importierte! Sie verkaufen nur noch Rohstoffe, Gas, Erdol und Waffen. Was die Waffen angeht, sind die tschetschenischen bojewiki gute Kaufer!" Und sie kaufen.

Die gro?en Versprechungen von Frieden, Eintracht und Wiederaufbau, die immer wieder von den Obrigkeiten abgegeben werden, prallen gegen eine Wand der Ironie. Im Kaukasus kennt man die okonomischen, okologischen, sozialen und moralischen Abgrunde, in die das russische Imperium gesturzt ist. Hier traumt man von sauberen Stadten wie in Westeuropa, von einem Minimum an Legalitat, damit der Handel funktioniert wie in der Turkei. Die Zollbeamten der Emirate gelten hier als ein Wunder an Korrektheit. Und das Wachstum in Asien lost gro?te Anerkennung aus. Der Gedanke, Russland, seit zehn Jahren unfahig, fur sich selbst zu sorgen, konnte die Schaden, die es ringsum anrichtet, wieder gutmachen, lost hochstens Heiterkeit aus. Den drastischen Methoden der Tschetschenen ziehen viele einen sanften Bruch vor, wie ihn Georgien und Aserbajdschan versuchten. Doch scheinbar sind die zentrifugalen Krafte durch nichts mehr aufzuhalten.

Surrealistische Szenen: Als Gast tschetschenischer Familien sah ich im Fernsehen zwischen zwei Stromausfallen den herzlichen Empfang, den man Putin in den Hauptstadten Europas bereitet. Rote Teppiche und unterwurfige Begru?ungszeremonien - ein Spitzel, der von den fruher Bespitzelten verhatschelt wird, Ehrenbekundungen an die Adresse der zehn Millionen Russen, die in Deutschland "lebten" und die deutsche Sprache lernten, genau wie der aufgeweckte Prasident, Bier aus der DDR, gemeinsame Projekte ... Der ganze Prunk, an dem sich das staatliche Fernsehen berauscht, diese unglaubliche Obszonitat vor dem Hintergrund eines Trummerfeldes! Wie soll ich, umgeben von Uberlebenden und zukunftigen Toten, da nicht weinen vor Wut? Ach! Einmal unsere gekronten Haupter, Kanzler und Premierminister an die Hand nehmen und ihnen die Beschreibung der "Locher" gonnen, mit denen die Kommandaturas ausgestattet sind! "Mittlere Luxusklasse": Die Geisel wird wie ein Klappmesser verschnurt, keine Chance, sich zu ruhren oder aufzustehe

n, und liegt im Dunkeln ohne Wasser und Nahrung in der eigenen Schei?e. "Luxusklasse": Der Gefangene steht auf beiden Beinen, der Rest ist identisch. Die Preise fur den Freikauf hangen in den Buros aus, sie variieren je nach Lager, Alter und Geschlecht. Zeugenberichte liefern ein ubereinstimmendes Bild. Alle reden daruber. Einige uberleben es. Die von den bojewiki terrorisierte Soldateska racht sich an den Einwohnern und lasst sich in natura bezahlen. Raub und Vergewaltigung sind so verbreitet, dass General Schamanow die "Trunksucht" der kontraktniki dafur verantwortlich machte und ihre Ablosung durch Soldaten der Foderation forderte. Geandert hat es nichts. Der Handel mit Tschetschenen bluht.

Jeder macht seine kleinen Geschafte. Fur 500 Dollar helfen einem die Offiziere, die Kontrolle zu passieren, fur ein paar Flaschchen drucken die einfachen Soldaten beide Augen zu. Jeder macht, was er will. Hier weist eine Speznaz-Einheit die lokalen Autoritaten zuruck und erklart, nur Putin hochstpersonlich zu unterstehen. Dort beteuert der FSB, keine Kontrolle uber maskierte Polizeikommandos zu haben, die mit Militarfahrzeugen Raubzuge und Entfuhrungen unternehmen. Gefangene werden vermarktet, Leichen verschachert, Reisepasse verkauft. Alles hat seinen Preis, der russische Krieg finanziert sich selbst. Weshalb sollte man ein so gutes Geschaft beenden? Dem Bauern bleibt nichts ubrig, als sein bescheidenes Hab und Gut zu verkaufen, um das geforderte Losegeld zu beschaffen - anderenfalls droht der Tod. Weil man sein Haus nicht mehr verlassen kann, wird in Tschetschenien immer weniger gearbeitet. Wozu noch bauen? Kaum steht ein Gebaude, wird es wieder zerstort. Es gibt keine Ernte. Die Herden weiden auf bestellt

em Land oder werden von Minen in die Luft gejagt. Auf den Ehrenempfangen in Rom, London, Madrid und Berlin strahlt Putin uber das ganze Gesicht, uber der Gegend von Grosny regiert sein Befehl. Sorry, Frau Konigin, da ist Blut in Ihrem cup of tea.

Aus Paris betrachtet, wirkt das tschetschenische Geschehen exotisch. Auf der einen Seite die Russen, wohlgenahrte und uberbewaffnete Rambos, auf der anderen Seite die Kampfer aus der Dritten Welt, je nach Geschmack fanatisch, erleuchtet oder engelsgleich. Dazwischen die umherirrenden Fluchtlinge. Zum Teufel mit diesen Klischees! Die Leute in Tschetschenien sind genau wie Sie und ich: Sie zogern, treffen eine Entscheidung, zogern erneut. Der Unterschied ist, dass sie dabei ihre Haut riskieren.

Aus der Sicht des Kaukasus ist die Tschetschenienfrage eine russische Frage. Wer glaubt schon, ein Volkchen von einer Million konne einer Nation von 150 Millionen gefahrlich werden? Und doch glimmt der Konflikt schon uber drei Jahrhunderte. Dabei nie militarische, juristische oder diplomatische Interessen im Vordergrund. Russland konnte seinen kleinen Nachbarn nach Herzenslust isolieren, knebeln oder mit ihm einen Modus Vivendi treffen. Das Problem liegt woanders. Es hat weder etwas mit Erdol zu tun noch mit dem politischen Gleichgewicht der transkaukasischen Region, das instabil bleiben wird, wer auch immer in Grosny regiert. Putins Wahlkampf endete, den mit Leichen gefullten Urnen sei Dank, mit dem erwarteten Erfolg, und trotzdem herrscht immer noch kein Frieden. Naturlich profitieren viele von dem Krieg, vom einfachen Soldaten bis hin zur Militarfuhrung, die vermutlich ahnlich runde Summen unterschlagt wie schon 1995. Aber Routine ist kein ausreichender Grund fur einen Krieg.

Putin hat das Vorgehen in Grosny als beispielhaft erklart. Er erhebt das tschetschenische Martyrium zum Paradigma der wieder hergestellten Obrigkeit, zum Modell der gepriesenen "Diktatur des Gesetzes", gewahrleistet durch die Gesetze der Diktatur. Den tschetschenischen Aufstand niederschlagen, um die Ordnung in den Kopfen der Russen wieder herzustellen, die Lektion wird urbi et orbi verbreitet: Schaut her, was mit Andersdenkenden geschieht, uberlegt es euch lieber! Diese Art der Volkserziehung ist nicht neu, schon die grausame Vernichtung der Kaukasier durch die Truppen des Zaren bediente sich solcher Methoden. Tolstoj schildert die Freude von Nikolaus I., als ihm der Schadel des Rebellenfuhrers Hadschi Murat uberreicht wird. Solange die tschetschenische Distel, dieses wild wuchernde Gewachs, nicht samt Wurzeln beseitigt ist, furchtet der Autokrat im Kreml Ansteckungsgefahr, die Ordnung Russlands basiert auf der Psychologie der Unterwerfung. Stalin dachte nicht anders.

Unmoglich, die Gegner, so unterschiedlich in ihrer Art zu leben und zu kampfen, unter dem Deckmantel der Unparteilichkeit auf eine Ebene zu stellen. Das beweisen die Selbstmordattentate der letzten Zeit. Auf der einen Seite attackiert eine uberbewaffnete Armee aus der Ferne die Menge. Auf der anderen Seite haben die "Selbstmorder" prazise Ziele: die Kasernen der Spezialeinheiten, lokale Fuhrungsstabe, Folterstatten. Die bojewiki nehmen ihren Tod in Kauf, damit sie klar definierte Ziele treffen, ihnen geht es darum, die Folterknechte zu toten und den terroristischen Apparat zu terrorisieren. Makellose Arbeit. Mit den menschlichen Bomben, die in den Bussen von Tel Aviv in die Luft gehen, hat das nichts zu tun.

Doch Selbstmord ist nicht kontrollierbar. Die Religion der Sufis lasst es nicht zu, dass Selbstmorder auf dem Friedhof beigesetzt werden. Tabus werden in dem Moment gebrochen, da Soldaten auf ihren Plunderzugen Kinder vor den Augen ihrer Eltern und Eltern vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigen. Wut und Verzweiflung konnten dazu fuhren, dass der noch begrenzte Terrorismus au?er Kontrolle gerat. In Russland gibt es Atomkraftwerke in Reichweite von Desperados, die wahnsinnig sind vor Schmerz und zu allem entschlossen. Dieser Schritt wird die Tschetschenen teuer zu stehen kommen, aber auch die Russen und ganz Europa. Ein bewusst verursachtes Tschernobyl ist moglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, und das Risiko wachst in dem Ma?e, wie der Kreml zerstort, erniedrigt und der Offentlichkeit bedeutet, ihm sei alles erlaubt. Nicht weniger selbstmorderisch ist das Verhalten der russischen Generale, die nichts aus ihrem jammerlichen Auftritt in Afghanistan gelernt haben. Wieder spielen sie sich als pyromanische Feuer

wehrmanner auf, verbreiten Elend und wundern sich dann daruber, dass in den Trummern die radikalsten Extremisten das Kommando ubernehmen.

Von meinem verstorbenen Freund Andre Frossard stammt die Definition fur das schlimmste Verbrechen uberhaupt: "Jemanden dafur zu toten, dass er geboren wurde." Als Armenier. Jude. Zigeuner. Tutsi. Man muss das differenzieren. Ein Genozid liegt vor, wenn der Morder das Ziel hat, alle Mitglieder einer Gruppe auszuloschen. Gibt sich der Morder aber damit zufrieden, wahllos zu toten, so handelt es sich "nur" um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das russische Mititar besitzt nicht die Mittel, um die tschetschenische Bevolkerung in ihrer Gesamtheit zu zerstoren - drei Viertel leben in der Diaspora. Zwar wird allen kriminellen Trieben freier Lauf gelassen, ein Genozid ist es trotzdem nicht. Stattdessen errichtet man schlauerweise ein riesiges Ghetto, in dem Bombenangriffe und Beschuss erlaubt sind und den Mordertruppen Straffreiheit sicher ist. Sollte Milocevic wegen eines einzigen Fehlers auf allgemeinen Protest gesto?en sein, den Putin wohlweislich nicht wiederholt? Belgrad jagte die Kosovoalbaner uber die

Grenzen. Moskau regelt das Los seiner Aufstandischen vor Ort und ohne laufende Kameras. Und der Westen schlie?t die Augen: erleichtert daruber, dass kein Fluchtlingsstrom seine Toleranzschwelle uberschreitet.

Nach anfanglichem Enthusiasmus raumen die Militarstrategen nun ein, dass die Unterwerfung Tschetscheniens einige Jahre dauern kann. Ich furchte, das ist ein Testfall. Moskaus Machthaber wissen, dass Russland noch lange wirschaftlich abhangig bleiben wird. Doch dass Russland notgedrungen seine Rohstoffe verkauft und den Westen um Kredite ersucht, macht es noch nicht zu einem Land der Dritten Welt. Da es um Russlands Produktivkrafte schlecht bestellt ist, greift es zuruck auf sein Arsenal zerstorerischer Krafte, sei es nuklearer oder konventioneller Machart, als Drohung und Exportprodukt. Herr Putin konnte gerade feststellen, dass weder irgendwelche Skrupel noch ordnungsgema? paraphierte internationale Konventionen ihn aufhalten. Tschetschenien ist der Beleg.

Auf meinen Streifzugen durch dieses von Bomben und Minen aufgerissene Land wurde ich nicht nur Zeuge des erschreckenden Elends, das diesem Volk zugefugt wird. Vermutlich wohnte ich der Geburt des gro?ten Schurkenstaates des 21. Jahrhunderts bei. Mag sein, dass China Putins Russland irgendwann ubertrifft, aber dann wird es seinem Beispiel gefolgt sein, seine schlechten Manieren ubernommen haben. Die einen gegen die anderen aufhetzen, Ol ins Feuer gie?en, die Radikalisierung fordern, die Haupter, Herzen und Stra?en entflammen: Lieblingsbeschaftigung von Dostojewskijs "Damonen" - und Vorboten Lenins. Der schaffte es, einen Teil der internationalen Intelligenz fur sich einzunehmen. Das lasst erahnen, wie schwer es den ebenfalls verfuhrten Banken und Geschaftsleuten fallen durfte, der Einflussnahme von Moskaus neuen Damonen zu widerstehen. Die spekulieren auf einen Kampf der Kulturen a la Huntington, hoffen auf ein weltweites Chaos, in dem Russland als unverzichtbarer Partner Ansehen und Einfluss fruherer Zeiten

zuruckgewinnt. Stalin gegen Hitler, Putin, der bin Laden den Garaus macht. Ein Traum!

Ein Interessenkonflikt spaltet die Mannschaft an oberster Spitze. Die Erben der einst stalinistischen Organe lassen die Muskeln spielen, um jene Halfte Russlands, die an der standig sinkenden Lebensqualitat verzweifelt, im Zaum zu halten. Die Oligarchen mit den prall gefullten Taschen halten sich fur unentbehrlich, schlie?lich haben sie gute Beziehungen zu den Kreditgebern im Westen. Die Protagonisten bekriegen einander nach den Regeln rivalisierender Mafiabanden. Der Ausgang ist ungewiss, man heuchelt Zusammengehorigkeit, doch heimlich wetzt jeder sein Messer. Diese Instabilitat bietet dem tschetschenischen Widerstand so manche Gelegenheit - und wurde sie auch dem Druck aus dem Westen bieten, vorausgesetzt, es gabe ihn. Wenn man nicht aufpasst, konnte es passieren, dass ein verbrecherisches Regime in gro?ter Bedrangnis die Flucht nach vorn antritt. Es lebe der Krieg! Putin verdankt ihm seinen Thron, die Armee ihr wiedergewonnenes Prestige. Insgeheim genie?en die neuen Damonen die Zerstorung und das resultie

rende Gefuhl der Sicherheit. Ginge es nach ihnen, wurden sie den permanenten Kriegszustand ausrufen - wenn nur das Volk die Last tragt und der Westen die Kosten.

"Alle funfzig Jahre geht es wieder los" - wie oft habe ich diesen Satz gehort? Seit zehn Jahren begleitet er das tschetschenische Gedachtnis. Die Alten erinnern an den Widerstand von Brest-Litowsk, wo die tschetschenischen Bataillone 1941 den Nazitruppen noch die Stirn boten, als ganz Russland schon aufgegeben hatte. Sie schildern die grausame Deportation von 1944. Die Sanger, deren Kassetten hier rei?enden Absatz finden, verherrlichen die Unabhangigkeitskriege des 19. Jahrhunderts. Am Anfang war der Widerstand. Die Tschetschenen kennen keine ethnische Ausgrenzung, sie haben kein Problem damit, "Auslander" zu heiraten, und viele adoptieren russische Waisen, die durch die Kriegswirren auf sich gestellt sind. Ihre Religion ist eher mystisch als integralistisch. So mancher erinnert sich geruhrt an den Rabbi von Grosny, der den Juden im Februar 1944 verbot, "auch nur einen Kaffeeloffel" der deportieren Kaukasier einzustecken. Nicht Rasse oder Fanatismus machen die Identitat des tschetschenischen Volkes aus, sond

ern Geschichte. Wer sich Dschingis-Khan und den Zaren, Stalin und Berija, Jelzin und Putin widersetzt, beweist eine unbeirrbare Freiheitsliebe. Zum Gru? wunschen sich die Tschetschenen "Freiheit". So sind sie, die "Franzosen des Kaukasus", wie Alexandre Dumas die Tschetschenen nannte.

Mit ihnen fuhrt Russland Krieg gegen sich selbst. Seine gro?ten Kunstler - Puschkin, Turgenjew, Tolstoj - haben den tapferen Bergbewohner und die schone Tscherkessin besungen. Die neuen Herren Moskaus versuchen ein Gedachtnis auszuloschen, das ihre Eigenliebe krankt. Zu Zeiten des Gulag ruhmte Solschenizyn den Stolz des kleinen Volkes, das sich nicht beugte. Doch das passt nicht zur Okumene eines Putin, der Stalin und Zar, Gott und Geheimpolizei, schwarzen Nationalismus und rote Willkurherrschaft frohlich vermischt. Im Krieg gegen Tschetschenien setzt Russland seine moralische Zukunft aufs Spiel. Wird es sich weiterhin von seiner schmutzigen und grausamen Geschichte rein waschen? Alles ausloschen und von vorne beginnen? Der angemessen bezahlte russische Polizist setzte mich auf offenem Feld ab, dann kehrte er noch mal um und rief mir vollig unerwartet zu: "Danke fur das, was Sie tun!" Ich kroch wieder durch den Stacheldraht. In Paris fand ich ein Gedicht von Lermontow, das nun fast 200 Jahre alt ist:

"Leb wohl, du ungewaschnes Russland/ du Land der Sklaven, Land der Herrn,/ ihr himmelblauen Uniformen,/ auch du Volk, dienst du doch zu gern./ Vielleicht werd dort im Kaukasus / ich deinen Paschas bald entgehn,/ den Ohren, welche alles horen,/ den Augen, welche alles sehn."

Aus dem Franzosischen von Anja Nattefort

(c) beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 31

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